Hat sich vorbereitet: Emmanuel Macron bei der gemeinsamen Pressekonferenz mit Olaf Scholz auf Schloss Meseberg bei Berlin. © afp
München – Emmanuel Macron hat sich eine Karte ausdrucken lassen. Als Frankreichs Präsident am Dienstag mit Bundeskanzler Olaf Scholz gemeinsam vor der Presse steht, hält er sie demonstrativ in die Kameras. Die Karte zeigt die militärische Lage um die ukrainische Frontstadt Charkiw, die nur 30 Kilometer von der russischen Grenze entfernt liegt und immer wieder von Stellungen beschossen wird, die dahinter liegen. Die Frage, die im Raum steht, lautet: Darf die Ukraine mit Waffen aus dem Westen auf russisches Staatsgebiet zurückschießen? Bisher heißt die Antwort: Nein. Die Nato-Staaten wollen nicht so tief in den Konflikt hineingezogen werden, dass sie sich plötzlich selbst im Krieg mit Russland befinden könnten. Doch Macron findet, man sollte der Ukraine solche direkten Rückschläge erlauben.
Und Olaf Scholz? Der Kanzler, der sich zuletzt im Europawahlkampf als Friedenskanzler auf Plakate drucken ließ, ist für gewöhnlich zurückhaltend, wenn es darum geht, der Ukraine etwas zu erlauben, was Wladimir Putin provozieren könnte. Und Russlands Herrscher hat bereits klargemacht, dass er solche Attacken mit westlichen Waffen als genau das sehen würde: eine Provokation. Sogar eine nukleare Reaktion stellt der Kreml in den Raum. Doch Scholz widerspricht Macron nicht etwa. Er sagt: irgendwas. In der so typischen Scholz-Manier reiht er Selbstverständlichkeiten und vage Andeutungen aneinander, die viel Raum für Spekulationen lassen. Klar ist danach zwar nicht, worauf er genau hinauswollte, aber eines schon: Scholz hat nicht Nein gesagt. In der Vergangenheit hatte er hingegen immer wieder betont, dass von Deutschland gelieferte Waffen nur auf ukrainischem Territorium eingesetzt werden dürften.
War das also schon der erste Schritt des Kanzlers, um seine Einschätzung spätestens nach der Europawahl in zwei Wochen zu korrigieren? Wird seine rote Linie tatsächlich zur rosa Linie, wie der „Spiegel“ mutmaßt?
SPD-Außenpolitiker Michael Roth würde es sich wünschen. „Die rote Linie ist das Völkerrecht, diese Linie wird nicht überschritten“, sagt er mit Blick auf ukrainische Angriffe auf Ziele in Russland im Deutschlandfunk. So aber habe die Ukraine „fast vier Wochen lang zuschauen müssen“, wie Russland sich auf einen Angriff auf Charkiw vorbereitete.
Andere in der SPD sind zurückhaltender. Verteidigungsminister Boris Pistorius sagte am Donnerstagabend bei einem Besuch in Odessa, er halte „wenig davon, rote Linien offenzulegen oder klarzulegen, was wir dulden oder nicht dulden und welche Waffen wo eingesetzt werden.“ Er ergänzte: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass der Kreml das zu irgendeinem Zeitpunkt tun würde.“
Der SPD-Minister hatte seinem Amtskollegen Rustem Umjerow in der Hafenstadt ein neues Waffenpaket im Umfang von einer halben Milliarde Euro zugesichert. Dieser betonte gegenüber Pistorius, man wolle mit den Waffen „strategische Objekte erreichen können, um den Feind hinter die international anerkannten Grenzen“ der Ukraine zurückzuwerfen. Gegen Auflagen beim Einsatz werde Kiew nicht verstoßen. „Als ein zivilisiertes Land haben wir niemals gegen Vereinbarungen verstoßen.“
Aus der Nato kommen nun allerdings Andeutungen, dass diese Auflagen womöglich auch gelockert werden könnten. Am Rande des Nato-Außenminister-Treffens in Prag stellen die USA, im Bündnis letztlich immer das tonangebende Schwergewicht, der Ukraine eine „Anpassung“ in Aussicht. „Bei jedem Schritt auf dem Weg haben wir uns angepasst und nach Bedarf umgestellt. Und genau das werden wir auch in Zukunft tun“, raunt US-Außenminister Antony Blinken. Zuletzt hatten mehrere Medien berichtet, dass Blinken US-Präsident Joe Biden dazu dränge, der Ukraine auch Angriffe auf militärische Ziele auf russischem Staatsgebiet zu ermöglichen. Hätte er damit Erfolg gehabt, könnte das womöglich erklären, warum auch die rote Linie des Kanzlers offenbar immer blasser wird.
Ganz in Luft aufgelöst hat sich diese Linie am Donnerstag bereits für Tschechien. Über eine neue Initiative des Landes gelieferte Artilleriegeschosse soll die Ukraine auch gegen Ziele in Russland nutzen können. „Tschechien hat kein Problem damit, dass die Ukraine sich gegen einen Aggressor verteidigt, der versucht, die Staatlichkeit zu zerstören – auch durch Angriffe, die zwangsläufig auf russischem Territorium stattfinden müssen“, sagte Außenminister Jan Lipavsky. Tschechien will der Ukraine so bis zu 800 000 Artilleriegranaten zur Verfügung stellen. Laut Regierungschef Petr Fiala haben inzwischen 15 EU- und Nato-Staaten rund 1,6 Milliarden Euro für das Vorhaben zugesagt – darunter auch Deutschland.
MIT DPA/AFP