Gespaltenes Verhältnis zur Regierung: Die meisten Wähler sind unzufrieden mit dem ANC. Vielen fällt es aber schwer, sich von der Partei des Freiheitskämpfers Mandela abzuwenden. © AFP
Pretoria – In Südafrika bahnt sich eine politische Zeitenwende an. Erstmals seit Ende der Apartheid 1994 könnte die ehemalige Befreiungsbewegung und heutige Regierungspartei Afrikanischer Nationalkongress (ANC) bei der Parlamentswahl ihre absolute Mehrheit verlieren. Nach Auszählung der Hälfte der Stimmen kam der ANC am Freitag lediglich auf 41,93 Prozent. Das vorläufige Ergebnis bedeutet einen massiven Machtverlust von rund 15 Prozentpunkten für die Regierungspartei.
Bleibt die einstige Partei des Anti-Apartheid-Kämpfers Nelson Mandela unter der 50-Prozent-Marke, was nun als wahrscheinlich gilt, wird sie eine Koalition bilden müssen. Die Wahlkommission will die Ergebnisse am Sonntag bekanntgeben. In den vergangenen 30 Jahren, seit Beginn der Demokratie 1994, hatte der ANC immer die absolute Mehrheit errungen und die stärkste Volkswirtschaft des Kontinents allein regiert.
Doch besonders in den vergangenen 15 Jahren hat der ANC enorm an Unterstützung verloren. Laut dem jüngsten Bericht des Befragungsinstituts Afrobarometer sind 85 Prozent der Bevölkerung unzufrieden mit der Richtung, die das Land eingeschlagen hat. Etwa die Hälfte glaubt, Südafrikas Demokratie leide an „massiven Problemen“. Mehr als 70 Prozent gaben an, dem Präsidenten und Parlament „überhaupt nicht“ oder „nur wenig“ zu vertrauen.
Die Gründe sind politischen Kommentatoren zufolge offensichtlich: Obwohl Südafrika das wirtschaftsstärkste Land Afrikas bleibt, stagniert das Wirtschaftswachstum seit mehr als einem Jahrzehnt. Die Arbeitslosigkeit liegt bei über 41 Prozent. Korruption und Misswirtschaft sind zu Synonymen der Regierungsführung geworden. Das Ergebnis sind marode Staatsunternehmen, eine zusammenbrechende Strom- und Wasserversorgung sowie fehlende Investitionen in die Infrastruktur, kombiniert mit hoher Kriminalität und einer dysfunktionalen Strafjustiz. „Die Demokratie hat Südafrika zwar politische Freiheit gebracht, aber die wirtschaftliche Freiheit ist auf der Strecke geblieben“, erklärt Jan Hofmeyer, politischer Analyst beim Institut für Justiz und Versöhnung (IJR).
Die Regierungsbilanz des ANC sei „katastrophal“, meint auch Gregor Jaecke, der Büroleiter der Konrad-Adenauer-Stiftung in Südafrika. Von 2009 bis 2018 untergruben der ehemalige Präsident Jacob Zuma und seine Regierung den Staat durch Korruption und Vetternwirtschaft. Trotz vieler Versprechungen konnte Zumas Nachfolger Cyril Ramaphosa dem kein Ende setzen. „Der Staat ist zur Beute einer gierigen politischen Elite geworden, die staatliche Institutionen systematisch ausgehöhlt hat“, sagt Jaecke. Er warnt, Südafrika befinde sich auf dem Weg zu einem gescheiterten Staat.
Auch für Deutschland und Europa ist die Wahl bedeutsam. Das 61-Millionen-Einwohner Land ist laut Internationalem Währungsfonds (IWF) die größte und am stärksten industrialisierte Wirtschaftskraft auf einem Kontinent, der aufgrund seiner Rohstoffvorkommen immer wichtiger wird. Südafrika ist Deutschlands größter Handelspartner in Afrika. Rund 600 deutsche Firmen, die rund 100 000 Mitarbeiter beschäftigen, sind vor Ort vertreten.
Außenpolitisch hat sich Südafrika, ein politisches Schwergewicht auf dem Kontinent, zunehmend von westlichen Partnern distanziert. Das Land pflegt enge Beziehungen zu Russland und China. Auch mit dem Iran, der seit Jahresbeginn zusammen mit Südafrika, Russland und China zur Brics-Gruppe wichtiger Schwellenländer gehört, hat Südafrika die bilateralen Beziehungen gestärkt. Hinzu kommt Südafrikas Klage vor dem Internationalen Gerichtshof, Israel verletze die Völkermord-Konvention. Südafrika ist auch nicht bereit, Stellung gegen Russland wegen dessen Angriffskrieg in der Ukraine zu beziehen.
„Vom Wahlergebnis hängt auch ab, ob sich die südafrikanische Außenpolitik weiter in Richtung Russland und China orientiert oder die Beziehungen zum Westen intensiviert werden“, sagt Hanns Bühler von der Hanns-Seidel-Stiftung in Südafrika. Die These: Ein starker ANC wird voraussichtlich den aktuellen Kurs stärken, während ein geschwächter ANC mit Druck eines Koalitionspartners eventuell wieder größeren Wert auf westliche Partner legt.