„Biden, rette sie vor Netanjahu“, heißt es von Geisel-Angehörigen auf der Demo in Tel Aviv. Es ist die größte Kundgebung seit dem 7. Oktober. © AHMAD GHARABLI/AFP
Gaza/Tel Aviv – Seit dem 7. Oktober waren nicht mehr so viele Menschen auf den Straßen von Tel Aviv. Rund 120 000 Menschen demonstrieren am Wochenende für einen Deal mit der Hamas – und gegen die israelische Regierung. Sie fordern lautstark Neuwahlen, skandieren, die Zeit der rechts-religiösen Koalition sei vorbei. Es kommt zu Zusammenstößen mit der Polizei, zu Festnahmen. Auf manchen Plakaten ist zu lesen, Biden interessiere sich mehr als Netanjahu für die Geiseln. Einige Demonstranten haben US-Flaggen dabei.
Am Tag zuvor hatte US-Präsident Joe Biden einen Plan für eine Waffenruhe vorgestellt – nach seinen Worten habe Israel ein „umfassendes“ Abkommen vorgelegt. Selten schien der Frieden so greifbar: Das Angebot vereine die Forderungen aller Parteien, heißt es in der Erklärung der USA. „Es ist Zeit, diesen Krieg zu beenden“, sagte Biden bei einer Fernsehansprache im Weißen Haus. Die Chance auf Frieden dürfe „nicht vertan“ werden. Israels neuer Vorschlag sei ein „Fahrplan für eine dauerhafte Waffenruhe und die Freilassung aller Geiseln“, sagte der US-Präsident. „Die Hamas muss diesen Deal annehmen.“
Der Plan hat drei Phasen: Die erste sieht eine vollständige und uneingeschränkte Waffenruhe von sechs Wochen und einen Rückzug der israelischen Streitkräfte aus dicht besiedelten Gebieten in Gaza vor. Es würde zunächst eine bestimmte Gruppe von Geiseln freigelassen – darunter Frauen, Ältere und Verletzte. Im Gegenzug würden hunderte Palästinenser freikommen, die in Israel inhaftiert sind. In einer zweiten Phase würden die Kämpfe dann dauerhaft eingestellt und die verbliebenen Geiseln freigelassen. In einer letzten Phase würde ein Wiederaufbau des Gazastreifens beginnen.
Für Verwirrung sorgt, dass Biden den Deal zwar als israelischen Vorschlag präsentiert hat – der israelische Regierungschef aber sehr zurückhaltend reagiert. Israel habe zwar Bidens Entwurf zugestimmt, viele Einzelheiten seien aber noch ungeklärt, betonte Ophir Falk, außenpolitischer Berater von Regierungschef Netanjahu, gegenüber der Zeitung „Sunday Times“. „Es ist kein guter Deal, aber wir wollen unbedingt, dass die Geiseln freigelassen werden, und zwar alle“, sagte er. Netanjahu macht nach Bidens Rede in einer Erklärung deutlich, dass sich Israels Bedingungen für ein Ende des Krieges nicht geändert hätten: Zerstörung der Hamas, Freilassung aller Geiseln. „Die Vorstellung, dass Israel einem dauerhaften Waffenstillstand zustimmen wird, bevor diese Bedingungen erfüllt sind, ist ein Rohrkrepierer.“
Auch der deutsche Kanzler Olaf Scholz (SPD) erhöhte am Sonntag in einem Telefonat mit Netanjahu den Druck und stellte sich klar hinter den Plan. Die USA, Katar und Ägypten appellieren nun sowohl an Israel als auch an die Hamas, sich auf den Deal zu einigen. Doch die Terrororganisation scheint auf Zeit zu spielen. Der Anführer der Hamas im Gazastreifen, Sinwar, dessen Zustimmung erforderlich ist, sagte, dass die Zeit auf seiner Seite sei und dass der Krieg Israel immer tiefer in einen Sumpf hineinziehe, berichtete das „Wall Street Journal“. Die zivilen Opfer in Gaza trügen dazu bei, Israel zu einem internationalen Paria zu machen, habe Sinwar seinen Verbindungsleuten in Notizen aus dem Untergrund übermittelt. Sinwar wolle demnach sicherstellen, dass die Hamas eine maßgebliche politische Kraft in Gaza bleibt.
In Bidens Vorschlag sei nicht erwähnt, wer nach dem Krieg die Herrschaft über den Gazastreifen übernehmen würde, berichtete die „New York Times“. Sollten keine anderen Vereinbarungen getroffen werden, könne dies dazu führen, dass die Hamas de facto an der Macht bleibe.
Netanjahu gerät derweil auch innenpolitisch massiv unter Druck. In Israel drohten prompt mehrere seiner rechtsreligiösen Koalitionspartner mit dem Platzen seiner Regierungskoalition, sollte sich Israel auf den Deal einlassen. Dieser bedeute einen „Sieg für den Terrorismus“ und eine „totale Niederlage“ Israels, wetterte der rechtsextreme Polizeiminister Itamar Ben-Gvir. Der Plan würde den Krieg beenden, ohne dass die Kriegsziele erreicht seien, so der rechtsextreme Finanzminister Bezalel Smotrich. Auch andere Minister sprachen sich gegen den Vorschlag aus.