„Das Ende der tausendjährigen Geschichte“: Russlands Präsident Wladimir Putin plant, die Atomdoktrin seines Landes zu ändern. © Vasily Smirnov/afp
München – Körperlich mag Wladimir Putin in Hanoi sein, aber geistig ist er in diesem Moment tief im Westen. Zum Abschluss seines Vietnam-Besuchs steht der Kreml-Chef vor einem dunklen Gemälde und bestätigt, was in den vergangenen Tagen in Andeutungen herumging. Ja, man denke darüber nach, die russische Atomdoktrin zu ändern, sagt er. Als Begründung muss eine angeblich gesunkene Hemmschwelle des Westens beim Einsatz von Atomwaffen herhalten. Russland müsse darauf reagieren.
Dort, im Westen, würden kleine Nuklearbomben mit geringer Sprengkraft entwickelt, sogenannte Mini-Nukes, in deren Nutzung westliche Experten „offenbar nichts Schlimmes“ sehen, behauptet Putin. Wie er darauf kommt, bleibt sein Geheimnis. Man muss den Auftritt wohl eher als indirektes Eingeständnis sehen: Bisherige Atomdrohungen haben den Westen nicht ausreichend beeindruckt. Also geht Putin nun einen Schritt weiter.
Die aktuell gültige Atomdoktrin stammt von Juni 2020. Damals unterzeichnete Putin ein Dekret, das die nukleare Abschreckungsstrategie Russlands zusammenfasst und Bedingungen für den Einsatz von Atomwaffen definiert. Die Grenzen sind eng, nur zwei Fälle lassen dem Kreml freie Hand. Der Einsatz ist erlaubt, wenn Russland seinerseits mit Nuklearwaffen attackiert wird – oder wenn ein Angriff mit konventionellen Waffen seine Existenz gefährdet.
In Putins freier Lesart haben es die westlichen Unterstützer der Ukraine genau darauf abgesehen. Sie wollten Russland eine strategische Niederlage auf dem Schlachtfeld beibringen, sagt er in Hanoi und setzt das mit dem Ende der russischen Staatlichkeit gleich. „Es bedeutet das Ende der tausendjährigen Geschichte des russischen Staates.“ Warum also sollte Russland Angst haben, fragt er. „Ist es nicht besser, bis zum Ende zu gehen?“
In der Vergangenheit hatte Putin immer wieder mit Atomschlägen gedroht, Intensität und Rhetorik aber stets angepasst. Zu Beginn des russischen Überfalls auf die Ukraine klang der Kreml-Chef aggressiv – Ende 2022 rüstete er etwas ab, sagte, der Einsatz taktischer, also kleiner Nuklearwaffen mache „politisch und militärische keinen Sinn“. Zuletzt zog er dann wieder an, im Mai ließ er seine Atomstreitkräfte nahe der Ukraine den Ernstfall üben. Auch damals machte er den Westen verantwortlich, konkret: Emmanuel Macrons Andeutungen über den Einsatz von Nato-Soldaten in der Ukraine.
Die Anpassung der Atomdoktrin würde zweifelsohne ins Schema passen. Konkretes weiß man allerdings nicht. Russlands Vize-Außenminister Sergej Rjabkow sagte schon Mitte vergangener Woche, man arbeite gerade an der Neuformulierung. Nicht mehr.
Die These der sinkenden Atom-Hemmschwellen ist im Übrigen nicht falsch – die Debatte darüber läuft aber nicht im Westen, wie Putin behauptet, sondern in Russland. Hardliner drängen schon seit Monaten darauf, ethische Grenzen fallen zu lassen. Der Moskauer Politikwissenschaftler und Provokateur Sergej Karaganov, dem großer Einfluss auf Putin und Russlands Außenminister Sergej Lawrow zugeschrieben wird, forderte den Kreml schon vor einem Jahr zu einem atomaren Präventivschlag gegen den Westen auf.
Seine These: Der Kreml müsse Europa mit Atomdrohungen von der Unterstützung der Ukraine abbringen. Sollte das nicht funktionieren, sei ein Präventivschlag zwingend. In einem Aufsatz bezeichnete Karaganow Atomwaffen vor ziemlich genau einem Jahr als ein „Eingreifen“ Gottes. Ihr Einsatz könne „die Menschheit vor einer globalen Katastrophe bewahren“.
Putin scheint vorerst weiter auf den Faktor Angst zu setzen. In den vergangenen Tagen tat er jedenfalls, was er konnte, um die Sorgen im Westen zu steigern. Bei einem Besuch in Nordkorea unterzeichneten er und Diktator Kim Jong Un ein neues strategisches Partnerschaftsabkommen, auch Waffenlieferungen an Pjöngjang schloss Putin nicht aus. Die USA reagierten beunruhigt. Solche Lieferungen könnten „die koreanische Halbinsel destabilisieren“, hieß es. In Putins Ohren dürfte die Sorge wie ein Erfolg klingen.