Wird er der neue Regierungschef? Jordan Bardella, Vorsitzender des rechts rechtspopulistischen Front National, gibt am Sonntag in einem Pariser Wahlbüro seine Stimme ab. © Julien de Rosa/afp
Paris – Marine Le Pen wähnt ihre Partei fast am Ziel. Das Mitte-Lager von Präsident Emmanuel Macron sei „praktisch ausgelöscht“, sagt die frühere Chefin des rechtsnationalen Rassemblement National am Sonntagabend und ruft die Wähler auf, ihrem RN bei den Stichwahlen am Sonntag die absolute Mehrheit zu geben. Komme es so, sagt RN-Chef Jordan Bardella, wolle er „Premierminister aller Franzosen“ werden.
Das mit der absoluten Mehrheit für Frankreichs Rechtspopulisten ist durchaus möglich. Laut Hochrechnungen landete das Rassemblement mit seinen Verbündeten in der ersten Runde der vorgezogenen Parlamentswahl mit 33 bis 34,2 Prozent vorne. Das Mittelager von Präsident Emmanuel Macron kam mit 20,7 bis 22 Prozent auf Platz drei hinter dem Linksbündnis Nouveau Front Populaire mit 28,1 bis 29,1 Prozent. Wie viele Sitze die Blöcke in der Nationalversammlung bekommen, wird erst in Stichwahlen am 7. Juli entschieden.
Für Präsident Macron ist es eine herbe Niederlage. Er hatte gehofft, mit der Neuwahl die relative Mehrheit seiner Mitte-Kräfte auszubauen. Das ist nun äußerst unwahrscheinlich.
Erste Prognosen gehen davon aus, dass das Le-Pens-Lager im Unterhaus mit 230 bis 280 Sitzen stärkste Kraft werden könnten. An der absoluten Mehrheit mit 289 Sitzen könnten sie aber vorbeischrammen. Auch die Linken könnten zulegen und auf 125 bis 200 Sitze kommen. Macrons Liberalen droht, auf nur noch 60 bis 100 Sitze abzusacken. Genaue Aussagen zur Sitzverteilung sind bisher aber schwierig. Vor der zweiten Wahlrunde können die Parteien noch lokale Bündnisse schmieden, die den Wahlausgang beeinflussen.
Der Altlinke Jean-Luc Mélenchon rief die eigenen Kandidaten bereits in bestimmten Fällen zu einem Rückzug auf: In den Wahlkreisen, in denen das Linksbündnis auf Platz drei und die Rechten auf Platz eins in die Stichwahlen gingen, sollten sich die linken Kandidaten zurückziehen. Auch das Macron-Lager kündigte an: Wo man Drittplatzierter sei, werde man zugunsten der Kandidaten zurücktreten, die das Rassemblement National schlagen können.
Sollte, wie in den Prognosen vermutet, keines der Lager eine absolute Mehrheit erlangen, stünde Frankreich vor zähen Verhandlungen um eine Koalition. Ein Zusammenkommen der grundverschiedenen politischen Akteure ist nicht absehbar. Gemeinsam könnten die Oppositionskräfte womöglich die derzeitige Regierung des Macron-Lagers stürzen. Ohne eine Einigung auf Zusammenarbeit dürfte aber auch keine andere Regierung eine Mehrheit im Parlament finden. So könnte die aktuelle Regierung als Übergangslösung im Amt bleibt oder eine Expertenregierung eingesetzt werden.
Frankreich würde dann politischer Stillstand drohen. Neue Vorhaben könnte eine Regierung ohne Mehrheit nicht auf den Weg bringen. Erneute Neuwahlen sind erst im Juli 2025 wieder möglich.
Für Deutschland und Europa hieße das, dass Paris als wichtiger Akteur in Europa und Teil des deutsch-französischen Tandems plötzlich nicht mehr tatkräftig zur Verfügung stehen würde. Statt neuen Initiativen stünde in Frankreich Verwaltung an der Tagesordnung. Das Amt von Staatschef Macron bleibt von der Wahl zwar unangetastet, doch ohne handlungsfähige Regierung könnte auch er seine Projekte nicht durchsetzen. Sollte das RN doch die absolute Mehrheit holen, wäre Macron faktisch gezwungen, einen Premier aus dessen Reihen zu ernennen. Dann würde der Präsident deutlich an Macht einbüßen.
Im Gegensatz zu Macron gibt das RN wenig auf die Zusammenarbeit mit Deutschland. Die Europaskeptiker streben danach, den Einfluss der EU in Frankreich einzudämmen. Sie könnten versuchen, in Brüssel etliche Vorhaben auszubremsen. Auch sind sie gegen die Erweiterung der EU, und stehen der Nato skeptisch gegenüber.
Hinter dem jetzigen Erfolg steht Le Pens jahrelanges Bemühen, das RN zu „entteufeln“ und von seiner rechtsextremen Geschichte zu entkoppeln. Mit ihrem Weichspülkurs hat sie die Partei bis weit in die bürgerliche Mitte hinein wählbar gemacht. Mit Jordan Bardella steht zudem nun ein frischer Politiker an der Spitze. Auch die hohe Wahlbeteiligung nutzte dem RN. Sie lag bei 65,8 bis 67 Prozent.
Staatschef Macron dürfte auch die überraschende Einigkeit des linken Lagers um Mélenchon zum Verhängnis geworden sein. Mehrfach hatte Macron zur Zusammenarbeit gegen die Extreme aufgerufen, ohne Erfolg. Am Sonntag versuchte er es erneut. Es sei an der Zeit, für den zweiten Wahlgang einen breiten, demokratischen Zusammenschluss zu bilden.