Eine neue Ära in Großbritannien

von Redaktion

Der neue Premierminister: König Charles III. (re) begrüßt Sir Keir Starmer während einer Audienz im Buckingham Palace. © Yui Mok/dpa

London – Es klingt in diesen Zeiten fast schon ein wenig altmodisch. Aber als Keir Starmer (61) am Freitagnachmittag – eben zurück von seinem Besuch bei König Charles III. – in der Downing Street vor die Kameras tritt, bedankt er sich erst einmal ausführlich bei seinem Vorgänger. Die Wähler haben Rishi Sunak mit einem unfassbar schlechten Ergebnis in die Wüste geschickt, aber Starmer hält die Etikette ein. „Seine Leistung als erster britisch-asiatischer Premierminister unseres Landes und der Extra-Aufwand, der dazu notwendig war, sollte von niemandem unterschätzt werden“, sagt Starmer. Es sind Töne, die nicht nur in der britischen Politik nicht mehr selbstverständlich sind.

Starmer, der mit einem erdrutschartigen Sieg ins Amt gespült wurde, verspricht einen Neustart. 14 Jahre lang hatten die Konservativen regiert. „Unsere Arbeit ist dringend, und wir beginnen heute damit.“ Ein Land zu verändern, sei nicht vergleichbar mit dem Umlegen eines Schalters. „Das wird etwas dauern“, sagt Starmer, nachdem ihn König Charles III. mit der Regierungsbildung beauftragt hat. Er ist der erste Premierminister von Labour seit Gordon Brown und Tony Blair. Seine Partei kommt nach Auszählung fast aller Wahlkreise auf mindestens 411 von 650 Sitzen im Unterhaus (House of Commons). Bei der Wahl 2019 hatte die Partei bloß 202 Mandate geholt. Die Konservativen brechen von bisher 365 auf etwa 120 Sitze ein. Dabei wurden so viele Kabinettsmitglieder abgewählt wie nie.

Den Wahlsieg verdankt Labour vor allem der schwindenden Unterstützung für die Tories. Der Anteil an Wählerstimmen für Labour betrug nach bisherigem Stand gerade einmal 34 Prozent. Dass es trotzdem zu einer satten Mehrheit an Sitzen im Unterhaus reichte, liegt vor allem am britischen Mehrheitswahlrecht, bei der in jedem Wahlkreis nur der Kandidat oder die Kandidatin mit den meisten Stimmen ins Parlament einzieht.

Sunak war bereits der dritte Regierungschef seiner Partei in der vergangenen Legislaturperiode, die von wirtschaftlicher Stagnation, zahlreichen Skandalen und stark steigenden Lebenshaltungskosten geprägt war. Sunak hatte im Oktober 2022 von der damaligen Regierungschefin Liz Truss übernommen, die nach nur 49 Tagen im Amt zurückgetreten war und nun auch ihren Sitz im Unterhaus verliert. Die Wahl ist für die Konservativen ein Alptraum. „Erdrutsch“ und „Massaker“ lauten einige Schlagzeilen der britischen Presse. Sunak kündigte seinen Rücktritt als Parteichef an. Er wolle den Posten abgeben, sobald die formalen Regelungen für die Nachfolge geklärt seien. „Dem Land möchte ich zuallererst sagen: Es tut mir leid.“

Mandate verloren haben die Konservativen wohl nicht nur an Labour. Die Liberaldemokraten konnten deutliche Zugewinne verbuchen. Die schottische Nationalpartei SNP dagegen verlor bei der Parlamentswahl. Etliche Stimmen gehen auch an die rechtspopulistische Partei Reform UK. Deren Vorsitzender Nigel Farage, der einst den Brexit maßgeblich vorangetrieben hatte, schafft es im achten Anlauf erstmals ins Unterhaus.

Auf den neuen Premier kommen etliche Herausforderungen zu – etwa die Überlastung des Gesundheitsdiensts NHS, Probleme in der Wohnungspolitik oder die Frage, wie das Land mit Einwanderung umgehen will. Kippen dürfte Starmer den Plan der bisherigen Regierung, irreguläre Migranten ungeachtet ihrer Herkunft nach Ruanda abzuschieben. Eine Rückkehr seines Landes in die EU hat er ausgeschlossen.

Große Begeisterung löst der als langweilig geltende Politiker bei den Briten nicht aus. In vielen Politikbereichen blieb er vage. Die Parteiführung hatte Starmer von dem Alt-Linken Jeremy Corbyn übernommen, dem vorgeworfen wurde, nicht genug gegen Antisemitismus in seiner Partei zu tun. Starmer ging dagegen vor und führte die Partei zurück in die politische Mitte. Der Krieg im Gazastreifen aber führt in seiner Partei, die den Palästinensern nahesteht, zu Spannungen.

Im Wahlkampf hatte Starmer seine bürgerliche Herkunft betont – sein Vater sei Werkzeugmacher und seine Mutter Krankenschwester gewesen. Weil seine Mutter schwer krank war, übernahm Starmer schon früh Verantwortung in der Familie, wie sein Biograf Tom Baldwin schreibt. Starmer ist Anhänger des Londoner Fußballvereins FC Arsenal und will auch selbst noch ab und an auf dem Fußballplatz stehen. Die Freitagabende will er sich weiterhin möglichst für Ehefrau Victoria und seine beiden Kinder im Teenageralter freihalten.

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