In Hessen geht es los, aber auch in Bayern wird bald saniert: Bauarbeiten an der Bahnstrecke in Biblis, ab heute ist die Riedbahn gesperrt. © Foto: Dedert/dpa
Frankfurt – Bahnsinn Riedbahn – so betitelt die Deutsche Bahn ihre Videodokumentation zur bevorstehenden Generalsanierung ihrer viel befahrenen Strecke zwischen Frankfurt, Biblis und Mannheim. Am Ende fasst der Konzern die Fakten zusammen: 15 Kilometer Schallschutzwände. 20 neue Bahnhöfe. 117 Kilometer neue Gleise. 152 neue Weichen. Schließlich, zu dramatischer Musik: „Und 84,7 Millionen, die glauben, dass wir scheitern.“
Auch wenn das humorvoll daherkommt – Respekt vor dem Projekt ist bei allen Verantwortlichen zu spüren, die darüber sprechen. Nicht ohne Grund: Die Dimensionen sind in vielerlei Hinsicht außergewöhnlich. Planerisch, personell – und politisch.
Verkehrsminister Volker Wissing (FDP) erklärte die Riedbahn zum Modell für die Sanierung von 40 weiteren wichtigen Strecken – gepackt in einen ehrgeizigen Zeitplan bis Ende des Jahrzehnts. „Der politische Druck auf die Baustelle ist immens“, sagt Gerd-Dietrich Bolte, der für den Netzbetreiber DB InfraGO die Infrastrukturprojekte in der Region Mitte verantwortet. So etwas habe er noch nicht erlebt.
Der Hintergrund liegt nahe. Bahn und Verkehrsminister räumen offen ein: Das Schienennetz ist nach Jahrzehnten zurückgefahrener Investitionen so marode, dass Arbeiten parallel zum Zugbetrieb nicht mehr hinterherkommen. So bleiben nur die Generalsanierungen, bei denen Strecken über Monate voll gesperrt werden, um sie abzureißen und neu aufzubauen. Als letzte Möglichkeit ist dieses Vorgehen zum Erfolg verdammt.
Die Riedbahn wurde zum Pilotprojekt, weil über die 70 Kilometer lange zentrale Nord-Süd-Verbindung zwischen Main und Neckar täglich mehr als 300 Regional-, Fern- und Güterzüge rollen. ICE auf dem Weg von München, der Schweiz oder aus Frankreich fahren dort auf dem Weg ins Ruhrgebiet, nach Hamburg oder Berlin – genauso wie der europäische Güterverkehr zwischen Nordsee, Alpen und Mittelmeer. „Deshalb wirken sich Probleme auf der störanfälligen Riedbahn bundesweit aus“, sagt Bolte. Geplante Kosten der Sanierung: 1,3 Milliarden Euro.
Bereitstellungsflächen wie in Gernsheim vermitteln einen Eindruck von den organisatorischen Herausforderungen. Dort warten riesige Berge an Schotter darauf, verteilt zu werden; 380000 Tonnen sind es insgesamt. Grundlage für 230000 Schwellen und Schienen, geliefert in 120 Meter langen Stücken. Dazu Tausende digitale Signale und Sensoren, Oberleitungen, Lärmschutzwände. Eine Materialschlacht.
Diese Dinge müssen irgendwie bewegt werden. Deshalb bleibt stets eines der beiden Gleise verfügbar für die 60 bis 80 Baufahrzeuge, die gleichzeitig auf der Strecke unterwegs sind – und koordiniert werden wollen. Hubschrauber fliegen die Signale an Ort und Stelle. Dazwischen 2000 Fachleute, die all das Material zur vorgesehenen Zeit an den richtigen Stellen verbauen.
Die Bahn muss für die Planung, Überwachung und Abnahme viele Fachleute konzernintern zusammenziehen. Für Sarah Stark ist die zentrale Frage: Wo bekommen wir ausreichend geschulte Leute her? Sie vertritt als Hauptgeschäftsführerin den Verband der Bahnindustrie in Deutschland – und damit jene Unternehmen, die die Arbeiten an den Strecken umsetzen. Nach Jahrzehnten mit wenigen Aufträgen habe die Branche ihre Kapazitäten zurückgefahren. Jetzt seien sie mit den anstehenden Generalsanierungen plötzlich maximal gefragt. „Unsere Unternehmen suchen händeringend Personal, auch im Ausland und bilden dort sogar teils aus“, berichtet sie. Auch teure Maschinen müssten angeschafft werden, die sich erst nach einem Jahrzehnt bezahlt machten. „Da braucht es das Vertrauen in die Verkehrspolitik, dass die Bahnprojekte auch tatsächlich finanziert werden.“ Das jüngste Hin und Her in dieser Beziehung sei wenig hilfreich.
Wie gravierend der Fachkräftemangel in der Bahnbranche tatsächlich ist, dürfte erst nach der Generalsanierung der Riedbahn deutlich werden. Da bis zum Jahr 2030 insgesamt 41 Abschnitte abgeschlossen werden sollen, müssen bald mehrere Projekte gleichzeitig laufen. Entsprechend vervielfacht sich der Personalbedarf.
Was das in Zahlen heißt, hat der Schienenkonzern am Beispiel des Bus-Ersatzverkehrs durchgerechnet. Der Deutschen Bahn ist es gelungen, für 150 Busse etwa 400 Fahrer und wenige Fahrerinnen an Main und Neckar zu holen – mit einer riesigen Kraftanstrengung. In den kommenden Jahren würden aber 1200 Frauen und Männer nötig, die 400 Fahrzeuge steuerten, berichtet Wolfgang Weinhold, der als Programmleiter alle anstehenden Generalsanierungen bei der Bahn steuert.
Lukas Iffländer vom Fahrgastverband Pro Bahn steigt hier aus. „Der Zeitplan bis 2030 ist nicht zu halten“, sagt er voraus. Er verweist auf die für Anfang 2026 geplante Generalsanierung der Strecke Nürnberg – Regensburg – Passau. Hier sei noch weitgehend offen, was überhaupt erneuert werden solle. „Hier fehlen die Leute für die Vorplanung, weil sie alle noch mit der Riedbahn beschäftigt sind“, sagt er.
Scheitert also das Riedbahn-Projekt? Wohl kaum. Dafür steht es viel zu sehr im Zentrum des öffentlichen Interesses. Und bekommt die Ressourcen, die es benötigt. Umgekehrt muss ein Erfolg bei der Riedbahn nicht bedeuten, dass Wissings Konzept der Generalsanierungen bis 2030 aufgeht. Dafür gibt es noch zu viele offene Baustellen.
Das halbstündige Video „Bahnsinn Riedbahn – Die Pilotfolge“ ist übrigens inzwischen nur noch über private Youtube-Accounts aufrufbar. Die Bahn veröffentlicht auf ihren offiziellen Kanälen stattdessen nun kurze Ausschnitte. Der „Spiegel“ berichtete, die aufwendige Dokumentation sei bei Verkehrsminister Wissing nicht gut angekommen.