Bei der ersten Plenarsitzung des EU-Parlaments wird Roberta Metsola (4. v. li.) als Parlamentspräsidentin wiedergewählt. Die Vergabe anderer Spitzenposten könnte kniffliger werden. © dpa
München/Straßburg – Die Machtspiele im Europaparlament beginnen sanft. Kaum jemand hat daran gezweifelt, dass die Christdemokratin Roberta Metsola ihr Amt als Parlamentspräsidentin behält. Die 45-jährige Malteserin genießt Vertrauen in der EU-Blase – dass sie den kleinsten Mitgliedsstaat der EU repräsentiert, macht den Abgeordneten nichts. Am Ende bekommt die EVP-Politikerin trotzdem 562 von 623 gültigen Stimmen. Als die Wahlzettel ausgezählt sind, verspricht Metsola, sich weiter für „ein starkes Parlament“ einzusetzen, „das die Gesetze vorantreibt, die unsere Bürger wollen und brauchen“.
Wie stark dieses Parlament sein wird, entscheidet sich vor allem in den nächsten Tagen. Es ist die erste Sitzung des neuen EU-Parlaments nach der Europawahl, als am Dienstag die 720 neu gewählten Abgeordneten in Straßburg zusammenkommen. Für mehr als die Hälfte von ihnen beginnt ein komplett neues Kapitel: 389 neue Gesichter, die gerade erst dabei sind, ihre Büros zu beziehen. Und zugleich den Höhepunkt des Politpokers um die europäischen Spitzenposten erleben.
Während Metsolas Wiederwahl eher eine Formsache war, erwartet Ursula von der Leyen am Donnerstag eine Zitterpartie. Dann entscheidet das Parlament, ob sie Kommissionschefin bleibt. Seit Tagen wirbt sie hinter den verschlossenen Türen des Europaparlaments um Stimmen, sie braucht vor allem die Unterstützung ihrer eigenen EVP, der Sozialdemokraten und der Liberalen. Noch ist völlig unklar, ob sie die Mitte von sich überzeugen konnte – zusammen kommen die drei Fraktionen auf 400 Abgeordnete. Von der Leyen braucht mindestens 361 für eine zweite Amtszeit. Dass nun jede Stimme zählt, weiß sie seit der letzten Wahl nur zu gut: 2019 erhielt sie gerade mal neun Stimmen mehr als notwendig.
Weil bei der geheimen Abstimmung (ohne Fraktionszwang!) aber mit etlichen Abweichlern gerechnet wird, wirbt sie auch um die Gunst der Grünen und der rechten EKR von der italienischen Ministerpräsidentin Giorgia Meloni. Allein um die Fraktionen „Europa souveräner Nationen“ der AfD und „die Patrioten für Europa“ von Ungarns Ministerpräsident Viktor Orban macht sie einen Bogen.
Orbán, das schwarze Schaf der EU: Der Umgang mit dem Regierungschef könnte heute Abend noch mal Thema werden. Dann soll die erste Resolution des Parlaments verabschiedet werden, in der die Abgeordneten ihre Unterstützung für die Ukraine bekräftigen wollen. Aus Parlamentskreisen heißt es, dass dabei auch der derzeit ungarische EU-Ratsvorsitz unter Orbán kritisiert werden könnte, berichtet der österreichische ORF.
Seit Tagen herrscht in der EU dicke Luft wegen Orbáns jüngster Reiseaktivitäten: Seit er am 1. Juli die EU-Ratspräsidentschaft übernommen hat, ist er im Alleingang zu einer selbst ernannten „Friedensmission“ aufgebrochen: Mit seinen Besuchen bei Wladimir Putin, Xi Jinping und Donald Trump hat er seine EU-Partner massiv verärgert. Am Montagabend ist Ursula von der Leyen der Kragen geplatzt – sie ordnet einen Boykott an. An künftigen informellen Ministertreffen unter der Leitung der EU-Ratspräsidentschaft in Ungarn dürfen nun keine Kommissare, sondern nur noch ranghohe Beamte teilnehmen. Außerdem verzichtet die EU-Kommission auf den traditionellen Antrittsbesuch in Budapest.
Aus Ungarn kommt scharfe Kritik. Ungarns Minister für europäische Angelegenheiten, Janos Boka, klagt, die Kommission könne sich nicht aussuchen, mit welchen EU-Mitgliedstaaten sie zusammenarbeiten wolle. „Werden von nun an alle Entscheidungen der Kommission politisch motiviert sein?“ Die Europaabgeordnete Kinga Gal von Orbáns Regierungspartei Fidesz wirft von der Leyen vor, das Thema zu nutzen, um sich Stimmen für eine zweite Amtszeit zu sichern.
Sollte Ursula von der Leyen am Donnerstag keine absolute Mehrheit schaffen, könnte das die EU in eine Krise stürzen. Es gibt nur einen Wahlversuch, die 27 Mitgliedsstaaten müssten einen neuen Kandidaten vorschlagen. Und das kann dauern. Die USA befinden sich dann bereits mitten im Präsidentschaftswahlkampf. Womöglich käme sogar erst eine neue Kommission zustande, wenn ein Joe Biden oder Donald Trump im Weißen Haus sitzt. Bis dahin wäre die EU kaum handlungsfähig – was nicht nur von der Leyens Gegenspieler Orbán, sondern auch den Gastgebern seiner „Friedensmission“ in die Karten spielen würde.