Was Russlands Justiz betrifft, haben deutsche Diplomaten längst jede Zurückhaltung abgelegt. Unverblümt warnt das Auswärtige Amt vor willkürlichen Festnahmen, die zu hohen Haftstrafen führen können. Moskau macht sich nicht einmal die Mühe, zur Wahrung des Scheins dagegen zu protestieren. Wie zum Beweis ist nun der US-Journalist Evan Gershkovich zu 16 Jahren Haft verurteilt worden, nach einem Verfahren, das in seiner drakonischen Strenge und Vorhersehbarkeit jeden Eindruck einer voreingenommenen Justiz bestätigt.
Das Kalkül des Kreml ist offensichtlich. Aus nichtigem Anlass werden westliche Bürger festgenommen, um sie anschließend gegen Russen zu tauschen, die für tatsächliche Schwerverbrechen in Haft sitzen. Gershkovich geht es nicht anders als der Basketballerin Brittney Griner, die zum Spielball der Politik wurde, weil sie bei ihrer Einreise eine minimale Menge Haschischöl im Gepäck hatte. Frei kam sie schließlich im Tausch gegen einen Waffenhändler – bekannt als „Händler des Todes“ –, den die Russen schon lange hatten freipressen wollen.
Auch Gershkovich ist nun ein willkommenes Faustpfand. Den Russen könnte es diesmal um den Berliner Tiergartenmörder gehen. Das groteske Ungleichgewicht zwischen echten und vermeintlichen Vergehen mag empörend sein – aber nur aus westlicher Sicht. Moskau wird sich auch diesmal in seinem düsteren Kalkül bestätigt fühlen. Marc.Beyer@ovb.net