Explosive Debatte um US-Raketen

von Redaktion

Viel Zündstoff birgt der jüngste Streit um Marschflugkörper wie die Tomahawk-Raketen, mit denen sich von Deutschland aus russisches Territorium angreifen ließe. © dpa/Grooman/US Navy

München – Wie schnell das Inferno losbrechen kann, ist längst bekannt. Das russische Staatsfernsehen hat es im April 2022 demonstriert, knapp zwei Monate nach Beginn des Angriffskrieges auf die Ukraine. Als Reaktion auf britische Ankündigungen, Kiew zu unterstützen, präsentierten die Propagandisten des Kreml eine Simulation, wie lange eine Atomrakete von der Enklave Kaliningrad nach Berlin unterwegs sei: 106 Sekunden. Andere westliche Hauptstädte wären demzufolge nur unwesentlich später erreicht. Paris in 200 Sekunden, London in 202.

Rolf Mützenich meint aber nicht diese Form von Zuspitzung, wenn er nun vor den Risiken warnt, die eine Stationierung amerikanischer Langstreckenwaffen in Deutschland mit sich bringe. Die Raketen hätten eine sehr kurze Vorwarnzeit und ließen deshalb wenig Zeit, eine Entscheidung noch zu korrigieren, mahnte der SPD-Fraktionschef gegenüber der Funke Mediengruppe: „Die Gefahr einer unbeabsichtigten militärischen Eskalation ist beträchtlich.“

Vor zehn Tagen hatten die USA und Berlin am Rande des Nato-Gipfels bekannt gegeben, dass ab 2026 wieder Waffensysteme in Deutschland stationiert werden, die bis weit nach Russland reichen. Die Pläne schließen sowohl Tomahawk-Marschflugkörper mit einer Reichweite von 2500 Kilometern ein als auch neu entwickelte Hyperschallwaffen. Es wird das erste Mal seit rund 30 Jahren sein, dass die USA ihr Arsenal auf deutschem Boden in dieser Weise aufstocken.

„Im besten Sinne“ füge sich die Stationierung in die deutsche Sicherheitsstrategie ein, sagte Kanzler Olaf Scholz nach der Entscheidung. Gedacht ist sie unverhohlen zur Abschreckung Moskaus, doch aktuell entfaltet sie auch in der deutschen Politik eine verstörende Wirkung. Neben den Parteien vom linken und rechten Rand ist es vor allem der linke Flügel der SPD, der um Fassung ringt. Mit Mützenich als seinem profiliertesten Vertreter.

Überraschend kommt der neueste Einspruch nicht. Er fügt sich in eine Reihe von Debatten über Waffenlieferungen, speziell den Taurus, oder diplomatische Lösungen, die militärischen vorzuziehen seien. In der SPD, die über Jahrzehnte eine Entspannungspolitik gegenüber Russland betrieb, ist das eine sensible, oft schmerzhafte Thematik. Mützenich hat zwar längst eingeräumt, Wladimir Putins imperialistisches Denken „komplett unterschätzt“ zu haben. Dennoch ist der Fraktionschef bis heute der lauteste Mahner, wenn es in der SPD darum geht, Putin mit demonstrativer Stärke zu begegnen.

Scharfe Kritik, auch aus den eigenen Reihen, bleibt da nicht aus. Verteidigungsminister und Parteifreund Boris Pistorius etwa unterstützt die US-Pläne mit Nachdruck. Sie stellten lediglich wieder ein Gleichgewicht her, denn Russland habe seinerseits längst Marschflugkörper in Kaliningrad stationiert: „In absoluter Reichweite zu Deutschland.“

Von den anderen Parteien gibt es nun erst recht deutliche Reaktionen – die Koalitionspartner eingeschlossen. Außenministerin Annalena Baerbock (Grüne) wies gegenüber den Funke-Zeitungen darauf hin, dass Putin „das Arsenal, mit dem er unsere Freiheit in Europa bedroht“, kontinuierlich ausgebaut habe. Dagegen müsse man nicht nur das eigene Land schützen, sondern auch Bündnispartner, besonders die baltischen Staaten. Abschreckung sei da unverzichtbar. „Alles andere wäre nicht nur verantwortungslos, sondern auch naiv gegenüber einem eiskalt kalkulierenden Kreml.“

Ähnlich perplex klang Ulrich Lechte, der außenpolitische Sprecher der FDP-Fraktion. Mützenich führe „ewiggestrige Debatten“, sagte er dem „Tagesspiegel“. Man müsse „den Amerikanern dankbar sein, dass sie auch weiterhin bereit sind, im Rahmen der Nato Europas Sicherheit zu gewährleisten“.

„Mützenich verwechselt erneut Ursache und Wirkung“, sagte Unions-Fraktionsvize Johann Wadephul (CDU) dem „Tagesspiegel“ mit Verweis auf russische Raketen in Kaliningrad. „Ohne die neuen US-Systeme sind wir schutzlos und mindestens erpressbar.“ Für Florian Hahn, den verteidigungspolitischen Sprecher der Union, ist der Disput ein weiterer Beweis für den Zustand der Koalition. Es sei „unerträglich, dass die Ampel in einer solch wichtigen Frage öffentlich streitet“.
MIT DPA

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