Fast jeder zehnte neue Soldat bei der Bundeswehr ist unter 18 Jahre alt. © Michael Kappeler/dpa
München – Normalerweise postet die 22-jährige Tina Neumann auf TikTok eher Videos von ihren Sport-Übungen, stellt ihre Hautpflege-Routine vor oder empfiehlt ihren Followern Schminktipps und die perfekte Jeans. Mit ihren Clips erreicht die Influencerin regelmäßig zehntausende Nutzer. Seit ein paar Wochen sind ihre Kulissen aber nicht mehr Fitnessstudio und Badezimmer, sondern Kaserne und Truppenübungsplatz. „Als Vegetarier bei der Bundeswehr?“, heißt es in einem ihrer Videos, in denen sie plötzlich Uniform trägt und die Militär-Kantine vorstellt. Da werde man „super versorgt“, verspricht sie.
Die junge Frau verbringt einen Monat bei der Bundeswehr – nicht weil sie dort eine Karriere anstrebt, sondern weil sie Werbung macht. Die Aktion ist Teil einer neuen TikTok-Kampagne namens „Explorers – Roadtrip durch die Bundeswehr“, bei der die Truppe mit Influencern unterwegs ist, um Nachwuchs anzulocken. Dabei zeigen die TikTok-Stars vier Wochen voller Spaß und Abenteuer – mit Militärhubschraubern, Regierungsjets, beim Hindernislauf und in gepanzerten Militärfahrzeugen. „Schon sehr interessant“, kommentiert einer von Neumanns Followern.
Die Bundeswehr kämpft schon lange mit einem Nachwuchs-Problem: Der umstrittene Kosovo-Einsatz, das Afghanistan-Desaster, Berichte über mangelhafte Ausrüstung – das Militär hatte jahrelang ein Image-Problem. Doch mit dem Ukraine-Krieg und der Bedrohung Russlands scheint die Bedeutung der Bundeswehr wieder in der Bevölkerung angekommen zu sein. Inzwischen sprechen die Karriereberater vermehrt junge Menschen an: mit Pop-up-Stores in Fußgängerzonen, YouTube-Kanälen, Messeständen, Social-Media-Kampagnen und auch Besuchen in Schulen. Und das Konzept fruchtet offenbar: In den vergangenen fünf Jahren hat die Bundeswehr fast 8000 Minderjährige rekrutiert. 2023 erreichte sie einen neuen Höchstwert: Fast 2000 Jugendliche unter 18 Jahren haben ihren Dienst bei den Streitkräften angetreten. Mit dem Einverständnis der Eltern ist ein freiwilliger Dienst bereits ab 17 Jahren erlaubt – sie werden aber noch nicht in den Einsatz geschickt.
Die Zahlen gehen aus einer Antwort des Bundesverteidigungsministeriums auf eine Anfrage der Linken hervor. Von dort kommt nun scharfe Kritik: „Die Bundesregierung scheint den Schutz von Minderjährigen vor Militarisierung inzwischen völlig aufgegeben zu haben“, meint Linken-Sprecherin Nicole Gohlke. Vor allem die Auftritte von Jugendoffizieren an Schulen prangert sie an. Die Schule müsse ein politisch neutraler und sicherer Ort und politische Bildung unabhängig und altersgerecht sein. „Diese bewusste und zunehmende Anwerbung Jugendlicher ist inakzeptabel.“
Laut dem Verteidigungsministerium waren Mitte Juli dieses Jahres 85 von 94 Dienstposten für Jugendoffiziere besetzt. Im vergangenen Jahr hielten sie an Schulen und Hochschulen insgesamt 3460 Vorträge und erreichten damit etwa 90 000 Schüler und Studenten.
Die Jugendoffiziere sollen in Schulen offiziell über militärische und sicherheitspolitische Grundsatzfragen und über Einsätze der Bundeswehr informieren. Das Verteidigungsministerium weist den Vorwurf der Militarisierung mit Jugendoffizieren zurück – sie würden keine Nachwuchswerbung betreiben, heißt es in deren Jahresbericht. Zuständig für dieses Thema seien die Karriereberater der Bundeswehr.
Die Zusammenarbeit zwischen Schulen und Bundeswehr ist derzeit speziell in Bayern ein Streitthema. Vor einigen Tagen hatte der Landtag ein umstrittenes Bundeswehr-Gesetz beschlossen, wonach Hochschulen und staatliche Schulen künftig besser mit dem Militär kooperieren sollen. Damit soll der Bundeswehr der Zugang zu Forschung an Unis und der Zutritt zu Schulen erleichtert werden, indem sie noch enger mit Jugendoffizieren zusammenarbeiten.
Die Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) in Bayern hat angekündigt, beim Verfassungsgericht eine Klage gegen das Gesetz einzureichen. Jugendoffiziere würden nicht nur über Sicherheitspolitik informieren, „sondern werben mit ihrem Auftritt für den Dienst an der Waffe“, kritisiert Mark Ellmann von der GEW.“ Mehr als 13 Prozent der neuen Rekruten seien vergangenes Jahr unter 18 Jahre alt gewesen, ein Viertel von ihnen komme aus Bayern.
MIT DPA