Debatte um die „Pandemie der Ungeimpften“

von Redaktion

Die Veröffentlichung der Corona-Protokolle entfacht Diskussion über Unabhängigkeit des RKI

Plädoyer für die Impfung: Jens Spahn, damals Minister. © dpa

München – Der Beitrag ist gut gealtert. Am 18. November 2021 – durch das Corona-gebeutelte Deutschland schwappt die Delta-Welle – stellt das ARD-Magazin „Monitor“ die Frage, ob es sich wirklich um eine „Pandemie der Ungeimpften“ handele. Am 3. November hatten sowohl Bundesgesundheitsminister Jens Spahn als auch Ministerpräsident Markus Söder diesen Ausdruck benutzt, zwei Tage später Thüringens Ministerpräsident Bodo Ramelow. Die Journalisten fragten nach – und fanden in den Unikliniken heraus, dass auf den Intensivstationen auch wieder mehr Geimpfte lagen. Zitiert wurde unter anderem Professor Carsten Watzl: „Indem man einfach immer nur sagt, es ist die Pandemie der Ungeimpften, suggeriert man auch den Geimpften, du musst dich jetzt gar nicht mehr vorsichtig verhalten“, sagte der Immunologe der TU Dortmund. „Auch die Geimpften müssen leider ihren Beitrag wieder leisten.“

Fast drei Jahre später ist eine neue Debatte um diesen Ausdruck entbrannt: „Pandemie der Ungeimpften“. Hintergrund sind bislang unveröffentlichte Protokolle des Robert Koch-Instituts (RKI) während der Pandemie. Demnach warnt am 5. November ein Mitarbeiter: „In den Medien wird von einer Pandemie der Ungeimpften gesprochen. Aus fachlicher Sicht nicht korrekt Gesamtbevölkerung trägt bei.“ Und er fragt: „Soll das in Kommunikation aufgegriffen werden?“ Der Leiter des Fachgebiets Impfprävention antwortet, der Minister – vermutlich Jens Spahn – sage das „bei jeder Pressekonferenz, vermutlich bewusst“. Das könne „eher nicht korrigiert werden“.

Jetzt ist die Aufregung groß. Der bayerische FDP-Vorsitzende Martin Hagen nennt den Ausdruck eine „Lüge“ und erinnert daran, dass in Bayern damals auch falsche Inzidenzwerte veröffentlicht worden seien. Im Dezember 2021 gab es im Freistaat Ärger, weil das Landesamt für Gesundheit alle Corona-Infizierten, deren Impfstatus unbekannt war, den Ungeimpften zuordnete. Das trieb die Inzidenz dieser Gruppe nach oben. Schon damals witterte Hagen dahinter Methode.

Zur Einordnung: Mit dem Ausdruck „Pandemie der Ungeimpften“ – den Spahn gestern als Verweis auf die Lage auf den Intensivstationen beschrieb – versuchte die Politik damals, die Impfbereitschaft zu erhöhen. Frank Ulrich Montgomery, Chef des Weltärztebundes, nannte es sogar eine „Tyrannei der Ungeimpften“. Es gab aber auch warnende Stimmen. Der bei Impfgegnern wenig beliebte Berliner Virologe Christian Drosten sagte, er halte den Ausdruck für „vollkommen falsch“. Denn: „Wir haben eine Pandemie, zu der alle beitragen – auch die Geimpften, wenn auch etwas weniger.“ Sein Bonner Kollege Hendrik Streeck sagte: „Es ist in diesem Herbst und Winter trügerisch zu glauben, dass ein Geimpfter sich nicht infizieren kann und das Virus nicht an seine Großmutter weitergeben kann, die vielleicht noch keine Booster-Impfung bekommen hat.“

Die Entrüstung heute kommt vor allem aus dem Kreis der Impfgegner, die 2021 in ihrer Mehrzahl aber vermutlich auch gegen Masken und Abstandsregeln für Geimpfte gewesen wären, wie sie das RKI in der Sitzung am 5. November 2021 ebenfalls thematisierte. Doch Kritik kommt auch von anderer Seite. FDP-Mann Hagen sagt: „Das Vertrauen in Politik und öffentliche Institutionen hat in der Corona-Zeit Schaden genommen. Um es wiederherzustellen, braucht es Transparenz und ehrliche Aufarbeitung.“ Dass das RKI Spahn nicht widersprochen habe, sei ein Unding. „Wir müssen die Unabhängigkeit des RKI stärken.“ Der Virologe Klaus Stöhr hatte schon im März gesagt, das RKI sei „Erfüllungsgehilfe politischer Interessen“ gewesen. Politische Entscheidungen seien oft nicht aufgrund wissenschaftlicher Erkenntnis erfolgt.
MIK

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