„Die Debatte hat eine Schlagseite“

von Redaktion

Mahnende Wort von Ex-SPD-Chef Norbert Walter-Borjans (re.): Olaf Scholz sollte den Menschen zugewandter erklären, warum er der Friedenskanzler für Deutschland ist. © Bernd Thissen/dpa

München – Ob Groko oder Nato – Norbert Walter-Borjans hat die SPD als Debattenpartei kennengelernt. Nun sei jedoch „eine trügerische Stille” eingetreten, moniert der ehemalige Vorsitzende im INterview. Kritische Meinungen zur Nachrüstung sieht er an den Rand gedrängt.

Herr Walter-Borjans, ist Olaf Scholz aus Ihrer Sicht ein glaubwürdiger Friedenskanzler?

Olaf Scholz handelt im Angesicht des Ukraine-Krieges in bester Absicht. Aber ich verstehe natürlich, worauf die Frage abzielt. Wenn sich Olaf Scholz im EU-Wahlkampf für die SPD als Friedenskanzler plakatieren lässt, ist das kurz nach der Genehmigung des Einsatzes deutscher Waffen auf russischem Territorium erklärungsbedürftig. Es geht nicht um mangelnde Glaubwürdigkeit, es geht um nahbare Kommunikation. Olaf Scholz sollte den Menschen zugewandter erklären, warum er der Friedenskanzler für Deutschland ist.

Sie kritisieren, dass die Bundesregierung die Stationierung von US-Raketen in Deutschland gewissermaßen im stillen Kämmerlein am Rande des Nato-Gipfels entschieden habe – ohne größere Debatte.

Mich stört, dass eine so weitreichende Entscheidung, zu der es nicht nur eine seriöse Meinung gibt, der Öffentlichkeit einfach vorgelegt wird. Im Alleingang Fakten zu schaffen und darauf zu setzen, dass sie um des lieben Friedens willen geschluckt werden, ist weder mein Verständnis von Führung noch von Geschlossenheit.

Wird in der SPD Kritik an der Nachrüstung an den Rand gedrängt?

Sie wird jedenfalls kaum sichtbar. Die Geschlossenheit, die uns stark gemacht hat, lebt vom Ringen um die Sache ohne persönliche Animositäten. Ich schätze die SPD als Debattenpartei, das war immer eine große Qualität. Was haben wir leidenschaftlich gestritten: über die Hartz-Gesetze, die Groko, früher den Nato-Doppelbeschluss, die Schuldenbremse. Das sollten wir nicht aufgeben für eine trügerische Stille.

Befürchten Sie, dass in militärischen Fragen künftig immer weniger Kritik geäußert wird?

Politik ist ein Spiegelbild der gesellschaftlichen Stimmung. Diese Lethargie, die ich vielerorts spüre – verglichen etwa mit den Demonstrationen gegen den Nato-Doppelbeschluss und die Nachrüstung Anfang der 1980er Jahre – finde ich nicht nur auffällig, sie besorgt mich zutiefst. Auch die mediale Berichterstattung halte ich für ziemlich einseitig. Mit dem herabsetzenden Unterton: Wir müssen sicherheitspolitisch endlich erwachsen werden. Wer die Sorgen vieler für dumm erklärt, muss sich nicht wundern, wenn Populisten das Feld auf ihre Art beackern.

In der Erklärung des Erhard-Eppler-Kreises, die auch Sie unterzeichnet haben, heißt es, Sie seien „tief besorgt über die Schlagseite“ der Debatte.

Putin versteht offenbar nur eine Sprache, nämlich Härte. Das bestreiten auch wir nicht. Aber die herabsetzende Einteilung in „Experten“, die Raketen mitten in Deutschland als probate Antwort auf Raketen in einer dünn besiedelten russischen Exklave betrachten, und in „Träumer“, die darin eher eine Erhöhung der Kriegsgefahr sehen, hat schon vom Umgangsstil her Schlagseite.

Wann haben Sie das festgestellt?

Vor allem als der SPD-Fraktionsvorsitzende Rolf Mützenich in der Debatte über eine Lieferung von Taurus-Marschflugkörpern an die Ukraine gefragt hat, ob es eventuell an der Zeit sei, dass wir nicht nur darüber reden, wie man einen Krieg führt, sondern auch darüber, wie man einen Krieg einfrieren und später auch beenden kann. Dass andere das anders sehen, gehört zur Demokratie. Die damit streckenweise verbundene Überheblichkeit schaden ihr dagegen.

Durch den Ukraine-Krieg ist die Nato zu ihrem Kernauftrag zurückgekehrt: Abschreckung und Verteidigung gegen einen Aggressor.

Es ging um Abschreckung und Abrüstung. Von Letzterem ist in dem vorgelegten Plan keine Rede. Im Augenblick erleben wir eher ein teuflisches Schachspiel. Dem skrupellosen Spieler im Kreml ist jedes Bauernopfer egal, aber gerade deshalb ist es so wichtig, dass wir über mehr als nur den nächsten Zug diskutieren.

Norbert Röttgen (CDU) sieht bereits das Ende der Politik der Zeitenwende aufziehen, weil Sie und Mützenich dem Kanzler widersprechen.

Es gehört zu Norbert Röttgens nassforscher Art, aus dieser Situation Honig zu saugen. Ich nehme das zur Kenntnis. Zeitenwende ist ein viel größerer Begriff. Da geht es um viel mehr als militärische Muskelspiele. Die Klimakrise, das Auseinanderdriften von Arm und Reich, Kriege und daraus resultierende Wanderungsbewegungen hängen eng miteinander zusammen. Die Welt hat sich in den letzten zehn, zwanzig Jahren grundlegend gewandelt. Das alles zusammen beschreibt eine Zeitenwende, die uns nicht weitermachen lässt wie bisher.


INTERVIEW: FLORIAN PFITZNER

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