Der Schriftsteller Heinrich Böll spricht 1983 in Bonn. © dpa
München – Es gibt da dieses Foto von 1983. Friedensdemo im Bonner Hofgarten. Mitten in der Menschenmenge steht ein junger Mann mit vollem Haupthaar in einer Lederjacke. Man muss etwas genauer hinsehen, aber es ist Olaf Scholz. Hunderttausende demonstrieren an diesem Tag gegen den Nato-Doppelbeschluss, den die Regierung von SPD-Kanzler Helmut Schmidt beschlossen hat und den Nachfolger Helmut Kohl (CDU) nun umsetzt. Und Scholz protestiert nicht nur. Er gehört sogar zum Organisationskomitee.
Damals der Doppelbeschluss, heute die Stationierung von US-Raketen in Deutschland. Es bestehen durchaus Parallelen. Nur eine nicht: 40 Jahre später gibt es keinen Aufschrei, keine Demonstrationen. Und wenn, dann stünde Scholz als Bundeskanzler auf der anderen Seite.
Die Ausgangslage heute: Das Moskau Wladimir Putins hat in den vergangenen Jahren Iskander-Raketen, die mit atomaren Gefechtsköpfen bestückt werden können, in der Exklave Kaliningrad stationiert. Auch russische Kampfjets mit Luft-Boden-Hyperschall-Raketen vom Typ Kinschal wurden dorthin verlegt. Darauf will die Nato nun eine Antwort geben. So wie Ende der 70er-Jahre. Damals gefährdete die Sowjetunion durch ihre massive Aufrüstung bei den Mittelstreckenraketen des Typs SS-20 das strategische Gleichgewicht in Europa. Der Doppelbeschluss vom Dezember 1979 bestand als Reaktion darauf aus zwei Teilen: Erstens sollten 198 Mittelstreckenraketen vom Typ Pershing II und 464 Marschflugkörper vom Typ BGM-109G Gryphon aufgestellt werden. Zweitens sollten Washington und Moskau über eine Begrenzung ihrer atomaren Mittelstreckenraketen beraten. Abschreckung und Verhandlung in einem quasi. Doch Moskau lehnte Gespräche ab.
Der Widerstand war riesig, an der Spitze die frisch gegründeten Grünen, die Gewerkschaften und die Kirchen, viele Intellektuelle. Nicht nur in Bonn demonstrierten Hunderttausende. Zwischen Stuttgart und Neu-Ulm gab es am 23. Oktober 1983 eine Menschenkette mit deutlich mehr als 200000 Teilnehmern.
Auch Teile der SPD waren in der Bewegung aktiv. Zunächst noch gegen die eigene Regierung, denn der Kanzler hieß 1979 noch Helmut Schmidt. Der SPD-Politiker war einer der ersten, der auf das Ungleichgewicht bei den taktisch-nuklearen Mittelstreckenwaffen in Europa hinwies. Seine Rede am 28. Oktober 1977 vor den International Institutes for Strategic Studies (IISS) in London lieferte die Grundlage für den Doppelbeschluss. Auch wenn ihn große Teile seiner Partei massiv ablehnten.
Umsetzen musste ihn aber ein anderer: 1982 lief Schmidts Koalitionspartner FDP zur Union über. Der Bundeskanzler wurde durch ein konstruktives Misstrauensvotum gestürzt und Helmut Kohl sein Nachfolger. Auch in den USA gab es 1981 einen Machtwechsel. Auf den Demokraten Jimmy Carter folgte der republikanische Hardliner Ronald Reagan.
Der setzte darauf, durch starke Aufrüstung, die wirtschaftlich angeschlagene Sowjetunion in die Knie zu zwingen. Der Plan ging auf. Moskau verlor das Wettrüsten. Michail Gorbatschow schlug 1985 eine massive Abrüstung vor – was 1987 im INF-Vertrag mündete, der die Abschaffung aller landgestützten ballistischen Raketen und Marschflugkörper mit kürzerer und mittlerer Reichweite vorsah. Schmidt durfte sich bestätigt fühlen.
Zu Putins zentralen Zielen gehört es, Gorbatschows Politik wieder rückgängig zu machen. Der INF-Vertrag ist seit 2019 Geschichte. Die USA und Russland gaben sich dafür gegenseitig die Schuld.
MIK