Der Kampf um Geiseln, Mörder und Spione

von Redaktion

Der Kreml-Chef und der Killer: Putin nahm den Tiergartenmörder Krassikow wie einen alten Freund in Empfang. © kremlin.ru

Zurück in der Heimat: Journalist Evan Gershkovich umarmt seine Mama auf dem Rollfeld. Präsident Joe Biden strahlt. © Harnik/AFP

München – Ekaterina Kara-Mursa schreckt kurz zusammen, als die Stimme ihres Vaters aus dem Lautsprecher kommt. „Hallo, meine Kleinen“, hört man ihn auf Russisch sagen. Ekaterina, ihr kleiner Bruder und ihre Mutter beugen sich über das Telefon im Oval Office. „Papa, es ist so schön, dich zu hören“, sagt die junge Frau unter Tränen. Direkt neben ihr steht Joe Biden. Der US-Präsident streichelt ihr tröstend über den Rücken. „Es gibt keine Worte dafür“, sagt Wladimir Kara-Mursa. „Ich war sicher, dass ich im Gefängnis sterben werde.“

Zu dem Zeitpunkt sitzt der russische Oppositionelle, der zwei Giftanschläge überlebt hat, mit 15 weiteren Gefangenen im Flieger. Sie sind auf dem Weg nach Ankara. Dort soll der spektakuläre Gefangenenaustausch stattfinden, um den der Westen und Moskau seit Monaten ringen. Fünf Deutsche, drei US-Amerikaner, acht russische Oppositionelle. Sie sind Journalisten, Aktivisten, Ex-Soldaten, politische Geiseln – und nun, nach langer Haft in Russland und Belarus, endlich wieder auf dem Weg nach Hause.

Unter ihnen ist auch Evan Gershkovich, Journalist beim „Wall Street Journal“. Als das Flugzeug in der Nacht auf Freitag auf dem Luftwaffenstützpunkt Joint Base Andrews bei Washington landet, ist er der erste von drei Passagieren, die aus der Maschine steigen – die anderen 13 landen am Flughafen Köln/Bonn (siehe unten). Mit einem Strahlen im Gesicht umarmt Gershkovich erst Vize-Präsidentin Kamala Harris und Joe Biden. Dann kommt seine Mutter Ella auf ihn zugelaufen. Gershkovich schließt sie in die Arme und hebt sie in die Luft. 16 Monate saß der 32-jährige Reporter in Russland in Haft. Es wird die Story seines Lebens gewesen sein. Kurz vor seiner Freilassung soll er Wladimir Putin noch um ein Interview gebeten haben.

Ganz anders wirken dagegen die Szenen auf dem Moskauer Rollfeld. Auch hier wartet der russische Präsident auf zehn Russen, die in westlichen Ländern inhaftiert waren. Der erste, der aus dem Flugzeug steigt, ist Wadim Krassikow, besser bekannt als Tiergartenmörder. Putin, der auf einem roten Teppich, flankiert von einer Ehrengarde, auf die Regierungsmaschine zusteuert, gibt dem verurteilten Mörder erst die Hand, dann nimmt er ihn herzlich in den Arm. Die Familien der Freigelassenen sind nicht dabei.

Wenige Stunden nach dem Gefangenenaustausch bestätigt Moskau erstmals, dass Krassikow ein Agent des russischen Geheimdiensts FSB ist. Er habe der Eliteeinheit angehört, sagt Kreml-Sprecher Dmitri Peskow. Krassikow wurde 2021 wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt, weil er im August 2019 einen tschetschenischen Oppositionellen aus Georgien im Kleinen Tiergarten in Berlin erschossen hatte – im Auftrag der russischen Regierung. Dass der Kreml nun seine Identität als Agent enthüllt, ist ungewöhnlich.

Die Freilassung des Tiergartenmörders hat eine entscheidende Rolle für den Deal gespielt. Für Wladimir Putin stand Krassikow, der in Russland als Held gefeiert wird, ganz oben auf der Liste. Seit mehr als einem Jahr hatten die USA und Russland über einen Gefangenenaustausch verhandelt. Die Bundesregierung hatte lange damit gehadert, den verurteilten Mörder wieder auf freien Fuß zu lassen. Vor allem Außenministerin Annalena Baerbock zeigte sich ablehnend. Erst Anfang des Jahres gab die Grünen-Politikerin nach. In einem Telefonat mit Joe Biden gab Kanzler Olaf Scholz dann grünes Licht: „Für Dich werde ich das machen“, soll er gesagt haben.

Der Deal sah vor, Krassikow und weitere russische Agenten gegen den Journalisten Gershkovich, den Ex-US-Soldaten Paul Whelan und Kreml-Kritiker Alexej Nawalny zu tauschen. Berlin hatte Nawalnys Ehefrau Julija bereits Hoffnung signalisiert. Doch dann kam alles anders. Bei der Münchner Siko im Februar wurde bekannt, dass Nawalny im Straflager gestorben ist. Damit war der Deal vom Tisch. Doch noch während der Siko sollen Kamala Harris und der Kanzler weiterverhandelt haben.

Der Wendepunkt kam am 25. Juni. Wie die „New York Times“ berichtet, trafen sich an jenem Tag eine Gruppe von CIA-Offizieren mit russischen Agenten irgendwo im Nahen Osten. Dort sollen die Amerikaner den Austausch von zwei Dutzend Gefangenen vorgeschlagen haben, verteilt in Russland, den USA und Europa – ein viel komplexerer Deal, als es beide Seiten zuvor in Betracht gezogen hatten. Etliche Gespräche folgten. Dann, am 21. Juli, kam die entscheidende Nachricht aus Slowenien: Regierungschef Robert Golob sagte dem US-Präsidenten am Telefon zu, dass er zwei russische Spione freilassen werde. Nur eine Stunde später erklärte Joe Biden öffentlich den Rückzug seiner Kandidatur. Kaum jemand wusste zu dem Zeitpunkt, dass er gerade eben eine seiner größten Amtshandlungen auf die Zielgerade gebracht hatte.

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