Verstehen sich gut: Viktor Orbán bei seinem Besuch in Moskau Anfang Juli. Der Ungar gilt manchen als Handlanger des russischen Präsidenten Wladimir Putin. © Valeriy Sharifulin/dpa
München – Normalerweise ist Viktor Orbán kein Mann der leisen Töne. Was er tut, soll gesehen und gehört werden, gerade dann, wenn es der Selbstinszenierung dient. Insofern ist es schon bemerkenswert, dass der jüngste Eklat so beiläufig daherkommt, dass man ihn beinahe übersehen hätte. Die Regierung von Viktor Orbán ermöglicht es russischen und belarussischen Staatsbürgern, unkompliziert nach Ungarn einzureisen. Und damit auch in den Schengen-Raum.
Der Erlass trat am 9. Juli in Kraft, also nur wenige Tage nachdem Orbán auf „Friedensmission“ in Moskau war. Ob es einen Zusammenhang gibt, ist unklar – wie vieles an diesem Schritt. Denn eine Begründung für die Einreise-Erleichterung lieferte die Regierung in Budapest bisher nicht. Dafür schrillen in der EU die Alarmglocken. Die Sorge: Russische Agenten könnten nun quasi ungehindert in die EU gelangen.
„Wer Russen ohne Prüfung in die EU lässt, der gefährdet massiv die Sicherheit Europas“, sagte der Fraktionschef der Konservativen im EU-Parlament, Manfred Weber (CSU), der „BamS“. „Die Spione und Mörder Putins haben schon viel Schaden in der EU und Deutschland angerichtet.“ Auch ein Sprecher des Bundesinnenministeriums betonte gegenüber der Zeitung, die Gefahr von russischer Spionage und Sabotage sei hoch. Die EU-Länder müssten den Schutz eher erhöhen, statt „potenzielle Einfallstore“ zu schaffen.
Das Einfallstor ist in diesem Fall die „National Card“, mit der Berechtigte in Ungarn arbeiten dürfen. Die Karte gilt vorerst für zwei Jahre, lässt sich aber verlängern. Die Behörden dürfen beliebig viele solcher Karten ausstellen, eine Deckelung ist offenbar nicht vorgesehen. Das Dokument selbst gibt es schon länger, es galt bisher für sechs Staaten, darunter Serbien und die Ukraine. Jetzt gilt es auch für russische und belarussische Staatsangehörige.
Orbán, dessen Nähe zum Kreml die EU-Partner immer wieder vor Probleme stellt, durchkreuzt nun einmal mehr die gemeinsame Linie. Denn als Reaktion auf die russische Invasion in die Ukraine hat die EU im September 2022 alle Visaerleichterungen für Russen ausgesetzt. Wer dennoch in die EU will, durchläuft ein „langwieriges, kostspieliges und schwieriges Visumverfahren“, wie es offiziell heißt.
Die Entscheidung ist seit Ende vergangener Woche besonders erklärungsbedürftig. Der Kreml, der im Rahmen des großen Gefangenenaustauschs auch den berüchtigten Tiergartenmörder freipresste, gab offen zu, dass der Mann ein Agent des russischen Geheimdienstes FSB war. Kurz darauf drohte Ex-Präsident Dmitri Medwedew jenen, die Moskau freiließ, mit Rache. Sie seien nirgendwo auf der Welt sicher.
Schafft Orbán nun also Wege für Putin, neue Tiergartenmörder in die EU zu schicken? Experten zufolge würde es zur Strategie des Kreml passen. Der Osteuropa-Kenner András Rácz von der Deutschen Gesellschaft für Auswärtige Politik sagt, Russland verfüge heute über weit weniger traditionelle Spione als vor dem Krieg und habe sich angepasst. Spionage werde „nicht von als Diplomaten getarnten Spionen durchgeführt, sondern in anderen Formen der ‚Tarnung‘, zum Beispiel als Gastarbeiter“.
EU-Innenkommissarin Ylva Johansson fordert nun Aufklärung darüber, wie Ungarn den Missbrauch seiner „National Card“ verhindern will. Sie hat Budapest eine Frist bis zum 19. August gesetzt. Gebe es keine Antworten, drohten Ungarn Konsequenzen.
Auch EVP-Chef Weber hält Konsequenzen für unausweichlich. „Die Regierungschefs müssen das Thema beim nächsten Gipfel klären“, sagt er. Der soll Ende September stattfinden – ironischerweise unter dem Vorsitz Ungarns, das seit Juli die Ratspräsidentschaft innehat. In dieser Rolle kann es zum Beispiel die Tagesordnung der Treffen maßgeblich mitbestimmen.
Auch Politiker anderer Parteien fordern Maßnahmen. Gerade vor dem Hintergrund des jüngsten Gefangenenaustauschs brauche es „gründliche und strikte Visa-Prüfungen“, sagte der Grünen-Innenpolitiker Marcel Emmerich dem Berliner „Tagesspiegel“. Ungarns Entscheidung könne Handlungsbedarf erfordern. Brandenburgs Innenminister Michael Stübgen (CDU) sprach sich klar für Kontrollen an allen EU-Grenzen zu Ungarn aus. Österreich und andere Länder seien nun gefragt. „Dass ein EU-Land quasi unkontrolliert Russen ins Land lässt, ist nicht hinnehmbar.“ Sein CDU-Kollege Jürgen Hardt forderte Einreiseverbote für „Profiteure des Kreml-Regimes und betuchte russische Touristen“.
Wie realistisch das alles ist, ist offen. Der EU-Paria Ungarn steht quasi konstant in der Kritik, wirklich schmerzhafte Folgen hatten Victor Orbáns Alleingänge aber kaum. Zumindest bis jetzt.
MIT AFP