Aggressive Stimmung: Randalierer bewerfen Einsatzkräfte der Polizei vor dem Holiday Inn Express in Rotherham. © Danny Lawson/dpa
München – Am Tag danach flattern zerrissene Vorhänge durch die eingeschlagenen Fenster des Holiday Inn Express Hotels. Stühle, Glasscherben, Zaunelemente liegen herum, irgendwer hat eine beschädigte Feuerschutztür mit Brettern vernagelt. Bewohner des mittelenglischen Städtchens Rotherham helfen Gemeindearbeitern beim Aufräumen. Was sie hier zusammenkehren, sind die Überreste von Krawallen, wie sie das Land seit Jahren nicht erlebt hat.
Rotherham ist der vorläufige Tiefpunkt. Am Sonntagnachmittag sammelt sich hier ein Mob vor dem Hotel, das seit 2022 als Asylunterkunft dient – der „Guardian“ zählt rund 700 Randalierer. Sie werfen Steine, Flaschen, Stühle auf die wenigen Polizisten, die das Gebäude schützen. Einzelne schaffen es ins Innere. Andere rufen von draußen: „Holt sie raus“. Gemeint sind die Flüchtlinge, die – Videos zeigen das – ängstlich hinausschauen. Am Ende setzen Vermummte einen Müllcontainer in Brand und fahren ihn unter eines der Fenster.
Seit Tagen schon überziehen Rechtsextreme das Land mit Gewalt. Allein am Wochenende waren in über 30 Städten Proteste angekündigt, vielerorts schlugen sie um. In Tamworth legten Randalierer an einem weiteren Hotel Feuer. In Sunderland attackierten sie eine Moschee und setzten ein Polizeigebäude in Brand. Laut der Zeitung „Mirror“ stoppten Aufrührer in Middlesbrough Autos, um die Fahrer nach ihrer Hautfarbe zu fragen. „Sind Sie weiß, sind Sie englisch?“ So ist es auf Videos zu hören.
Die Exzesse entzündeten sich an einem Vorfall, der am Montag vor einer Woche das Land schockierte. Ein 17-jähriger Teenager tötete in Southport nahe Liverpool drei kleine Mädchen und verletzte acht weitere teils schwer. Schon kurz darauf kam es zu ersten gewaltsamen Unruhen.
Befeuert wurden sie durch düsteres Geraune im Netz. Dort hieß es noch am Tag der Morde, der Täter sei ein muslimischer Asylbewerber und den Behörden bekannt. Auch ein Name machte die Runde: Ali Al-Shakati. Verbreitet wurde er von einem Account, der – als Nachrichtenkanal Channel 3 News getarnt – mutmaßlich Verbindungen nach Russland hat.
Zwar hat die Polizei längst klargestellt, dass der Verdächtige weder Muslim noch Asylbewerber ist, sondern das in Wales geborene Kind ruandischer Einwanderer. Für einen ebenfalls behaupteten Terror-Hintergrund gibt es keinerlei Hinweise. Doch die Krawalle hat das nicht stoppen können, im Gegenteil. Die Bluttat scheint zum Vorwand ungezügelter Aggression geworden zu sein.
Dahinter steckt wohl ein Geflecht aus verschiedenen rechtsradikalen Gruppen, Influencern und Online-Accounts, die die Morde geschickt für ihre Zwecke nutzen. Eine Zentralfigur: der vorbestrafte Ex-Hooligan und Rechtsextremist Tommy Robinson. Er ist einer der Mitbegründer der antiislamischen „English Defence League“, die bei den jetzigen Krawallen mitmischen soll. In Sozialen Netzwerken, vor allem X und Telegram, facht Robinson die Stimmung in der Heimat immer wieder an. Er selbst soll sich ins Ausland abgesetzt haben.
Für die neue britische Regierung ist die Situation mehr als heikel. Aus dem Stand muss sie die heftigsten Krawalle seit Jahren in den Griff bekommen. Premier Keir Starmer von der sozialdemokratischen Labour-Partei versucht es mit Härte. Für Montag setzte er eine Sitzung des Nationalen Krisenstabs Cobra ein, an der neben ihm auch mehrere Minister und Polizei-Vertreter teilnahmen. Schon am Sonntag, der Angriff auf das Hotel in Rotherham lief noch, äußerte er sich öffentlich. „Ich garantiere Ihnen, Sie werden es bereuen, an diesen Unruhen teilgenommen zu haben“, rief er den Randalierern und Online-Scharfmachern zu. Wer mitgemacht habe, komme vor Gericht.
Das ist vermutlich keine leere Drohung. Als Leiter der obersten Strafverfolgungsbehörde in England und Wales war Starmer schon einmal mit schweren Ausschreitungen konfrontiert. 2011 war das, die Polizei hatte damals einen schwarzen Familienvater erschossen, im ganzen Land setzten gewaltsame Proteste ein. Mehr als 3000 Menschen ließ der heutige Premier damals verhaften, die Gerichte arbeiteten rund um die Uhr. Auch jetzt scheint er diese Strategie zu erwägen. Ob Polizei und Justiz dazu überhaupt die Kapazitäten haben, wird derzeit debattiert. Seit Beginn der Krawalle soll es mehr als 400 Festnahmen gegeben haben.
Allem Anschein nach will Starmer aber nicht über die Maßen eskalieren. Die Forderung des schottischen Ex-Regierungschefs Humza Yousaf, das Militär im Inneren einzusetzen, lehnte er ab. Auch das gerade neu gewählte Parlament soll in der Sommerpause bleiben, vorerst jedenfalls.
MIT DPA