Der Osten und die Russland-Frage

von Redaktion

Stets streitbar: Michael Kretschmers Positionen zum russischen Krieg gegen die Ukraine kommen in Sachsen offenbar an. © Jan Woitas/dpa

München – Michael Kretschmer ist kein Putin-Versteher, auch wenn man manchmal geneigt sein könnte, das zu glauben. Gerade hat Sachsens Ministerpräsident ein Interview gegeben, in dem er nicht weniger infrage stellt als die Überlebensversicherung der Ukraine. „Wir können nicht länger Mittel für Waffen an die Ukraine in die Hand nehmen, damit diese Waffen aufgebraucht werden und nichts bringen“, sagte er dem Redaktionsnetzwerk Deutschland. Hilfe ja, aber alles müsse im Verhältnis stehen.

Kretschmer ist seit Beginn des russischen Krieges für einen offeneren Kurs gegenüber dem Kreml, ganz anders als viele Fachpolitiker, auch in seiner eigenen Partei. Er mache es sich halt nicht so leicht wie die grüne Außenministerin, sagte er im Februar unserer Zeitung: „Wir werden Russland nicht militärisch in die Knie zwingen.“ Also brauche es andere Wege. Damit meinte der 48-Jährige Verhandlungen. Aber Kürzen oder Streichen der Waffenlieferungen?

Die Schärfe fällt auf und sie hat einen Grund: In drei Wochen wählt Sachsen einen neuen Landtag und Kretschmer – Ministerpräsident, nicht Außenminister – kämpft um sein Amt. Dass er dabei auch mit Außenpolitik punkten will, ist nur auf den ersten Blick verwunderlich. Der Krieg in der Ukraine ist im Wahlkampf ein wichtiges Thema. Und der Osten bringt, vorsichtig formuliert, mehr Verständnis für Russland auf als der Westen.

Zu erkennen ist das mitunter am Erfolg der Parteien, die mit ihrer Nähe zu Moskau unverhohlen werben: Die AfD liegt laut ZDF-Politbarometer in Sachsen bei 30 Prozent, das Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) bei elf. Letzteres hat die Ukraine-Politik zu einem Kernthema hochgejazzt, sogar eine mögliche Regierungsbeteiligung daran gekoppelt. Viel mehr als eine PR-Nummer ist das nicht, Sicherheitspolitik ist nun mal nicht Ländersache. Aber Kretschmer könnte auf der Suche nach Koalitionspartnern noch mal auf das BSW angewiesen sein.

Nicht nur er steht unter Druck. Den Kollegen in Thüringen und Brandenburg geht es ähnlich – auch sie fallen gerade mit (echter oder fingierter) Ukraine-Expertise auf. Brandenburgs Regierungschef Dietmar Woidke (SPD) forderte die Ampel unlängst auf, „alle diplomatischen Bemühungen“ zu ergreifen, die möglich sind. Der Krieg müsse schnellstmöglich enden. Thüringens linker Ministerpräsident Bodo Ramelow, eigentlich ein Ukraine-Unterstützer und damit eher ein einsamer Genosse, forderte unlängst einen Nichtangriffspakt mit Russland.

Auch das war kein Zufall. Denn dort, in Thüringen, drohen bei der Wahl am 1. September besonders große Verschiebungen. AfD (laut Politbarometer bei 30 Prozent) und BSW (19 Prozent) kommen zusammen auf die Hälfte der Stimmen. Nimmt man die abgeschlagene Linke dazu, liegen die drei russlandnahen Parteien bei 64 Prozent. Thüringens CDU-Spitzenkandidat Mario Voigt sprich sich neuerdings übrigens auch für mehr Diplomatie aus. Auch seine Regierungsperspektive dürfte letztlich am BSW hängen.

Dass der Osten in Sachen Russland so anders tickt, hat nach Ansicht des Dresdner Politologen Hans Vorländer verschiedene Gründe. „Dahinter steckt einerseits die Angst, dass es zu einer großen Auseinandersetzung kommen könnte, die den noch jungen Frieden in der früheren DDR gefährdet“, sagt er unserer Zeitung. Auch alte antiwestliche, antiamerikanischen Grundeinstellungen spielten dabei eine Rolle. „West-Deutschland identifiziert sich schon sehr mit der Nato. Insofern ist die Haltung vieler im Osten auch Teil des Protests gegen die westdeutsche Dominanz.“

Noch etwas kommt laut Vorländer hinzu: gezielte russische Desinformation, die nicht nur in Netzwerken wie Telegram verbreitet wird. „Die Rolle von Sahra Wagenknecht, die ja Putin-Positionen vertritt, ist gewichtig“, sagt Vorländer. „Sie hat in Teilen Ostdeutschlands Kultstatus. Was sie sagt, hat für viele autoritative Bedeutung.“

Das gilt für Kretschmer nicht – die Reaktionen auf seine jüngsten Äußerungen sind dafür ähnlich scharf wie bei Wagenknecht. Parteifreunde wie Roderich Kiesewetter widersprechen ihm deutlich, werfen ihm wahltaktische Spielchen vor. Die Union gebe Kretschmer „sehr viel Freiraum, damit er seinen Landtagswahlkampf gewinnt“, sagt Kiesewetter. Ob die Rechnung aufgehe, werde man sehen.

Und, geht sie auf? Laut Vorländer ist das durchaus möglich. „Nach der letzten Umfrage liegt die CDU in Sachsen erstmalig wieder vor der AfD“, sagt er. „Und das liegt natürlich vor allem an Michael Kretschmer, der die genannten Positionen einnimmt – aber auch einen Bonus als Ministerpräsident kassiert.“ Sollte er die Wahl gewinnen, ist das bisschen interne Prügel mit Sicherheit schnell wieder vergessen.

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