Eine russische Rakete hat in der ostukrainischen Stadt Kostjantyniwka einen Supermarkt getroffen und mindestens 10 Menschen getötet. © EPA/Donetsk Regional State Administration
Kiew – Noch immer sind die Fragezeichen groß, sicher ist nur dies: Die ukrainische Offensive auf russischem Gebiet ist mehr als nur ein Nadelstich für den Kreml. Kiews Truppen haben Russland kalt erwischt, der Innsbrucker Politologe Gerhard Mangott spricht gar von einer „demütigenden Ohrfeige für Putin“. In jedem Fall ist der Knall so laut, dass er weltweit gut zu hören ist. Das Signal: Kiew ist noch da – und es ist zu Überraschungen fähig.
Das, was man über den Vorstoß weiß, ist insgesamt noch immer sehr selektiv. Experten des US-Instituts für Kriegsstudien (ISW) schreiben, ukrainische Soldaten seien bis zu 35 Kilometer über die eigene Grenze hinaus vorgestoßen, ohne allerdings das ganze Gebiet unter Kontrolle zu haben. Daran, dass die Truppen das Gebiet mittelfristig werden halten können, muss man zweifeln.
Der Effekt ist wohl eher ein kurzfristiger. Die Ukraine habe erreicht, „dass russische Einheiten sich in Richtung Kursk in Bewegung setzen mussten und dabei auf dem Marsch sehr verwundbar sind“, sagt Sicherheitsexperte Nico Lange, der für die Münchner Sicherheitskonferenz arbeitet. Das könnte den Druck an anderen Stellen der Front etwas mildern, etwa im ostukrainischen Donbass.
Ebendort hat Russland am Freitag allerdings brutal zugeschlagen. Die Kremltruppen beschossen einen Supermarkt in der Stadt Kostjantyniwka mit Raketen. Die Behörden melden mindestens zwölf Tote und 44 Verletzte. Präsident Wolodymyr Selenskyj sprach den Angehörigen der Opfer sein Mitgefühl aus und erklärte im Onlinedienst Telegram, Russland werde für den Angriff, der mitten am Tag erfolgte, „zur Rechenschaft gezogen“. Nach Angaben des Innenministeriums brach in Folge des Raketenangriffs ein Brand auf gut 1000 Quadratmetern aus.
Die Stadt Kostjantyniwka ist nur rund 13 Kilometer entfernt von der Front. Schon im September 2023 hatten russische Truppen hier einen Marktplatz beschossen. Damals kamen 16 Zivilisten ums Leben. Angriffe finden fast täglich statt.
Man muss den Angriff wohl als Teil der Reaktion auf das ukrainische Vordringen in Kursk verstehen. Russland stufte die Lage am Freitag zum „föderalen Notfall“ hoch. Das Verteidigungsministerium kündigte an, es würden Truppen mit Raketenwerfern, Artillerie, Panzern und schweren Lastwagen nach Kursk geschickt. Auch seien ukrainische Stellungen am westlichen Rand der rund acht Kilometer von der Grenze entfernten Stadt Sudscha getroffen worden.
Beide Seiten gaben an, dass die Ukraine neben Kursk auch die angrenzende Region Lipezk ins Visier genommen hat. Russische Staatsmedien und Lokalbehörden meldeten am Freitagmorgen einen Brand auf dem dortigen Militärflugplatz – zu dem sich wenig später der Generalstab der ukrainischen Armee bekannte. Bei dem Angriff habe man „Depots mit Lenkbomben und andere Einrichtungen“ getroffen, hieß es. Russische Behörden meldeten einen „massiven“ Drohnenangriff und einen Brand auf einem Militärflugplatz sowie Schäden an einem Elektrizitätswerk.
Dem russischen Verteidigungsministerium zufolge schoss die Luftabwehr zudem insgesamt 75 ukrainische Drohnen über russischem Staatsgebiet sowie über der von Russland annektierten Halbinsel Krim ab. 26 davon seien über der Grenzregion Belgorod abgefangen worden, sieben weitere über Kursk, 19 über der Region Lipezk – und 13 über der Krim. Zudem seien sieben Marinedrohnen zerstört worden, die sich auf die Krim zubewegt hätten.
Russland sieht sich insgesamt so stark unter Handlungsdruck wie lange nicht mehr. Präsident Putin hat den Krieg gegen die Ukraine auch mit dem Argument begonnen, für die Sicherheit und Stabilität seines Landes zu kämpfen. Nun trifft der Krieg einmal mehr vor allem die Grenzregionen. Dort haben viele Menschen ihr Hab und Gut verloren, sind entsetzt und desillusioniert, wie sogar Behördenvertreter einräumen. Sie müssen zusehen, wie Putins Krieg auch ihr Leben bedroht und die Atommacht trotz der Beteuerungen des Kreml verwundbar ist.
Beobachter in Russland gehen davon aus, dass die neuen Probleme womöglich noch mehr Freiwillige für den Fronteinsatz mobilisieren. Schon zuletzt hatten die Regionen und auch Putin die Geldprämien für die Unterzeichnung von Verträgen für den Kriegseinsatz deutlich angehoben.
DPA