INTERVIEW

„Es braucht ein Ausgabenmoratorium“

von Redaktion

Warum die Chefin einer der größten Krankenkassen ein Umdenken und Korrekturen im System fordert

Gertrud Demmler führt die Siemens Betriebskrankenkasse.

München – Gertrud Demmler ist Vorstandschefin der Siemens-Betriebskrankenkasse. Im Interview sagt sie, warum aus ihrer Sicht zu viel Datenschutz dem Patienten schadet, und wo Gesundheitsminister Karl Lauterbach dem Beispiel von Seehofer folgen sollte.

Wie beurteilen Sie die Qualität im deutschen Gesundheitswesen?

Wenn es um neue medizinische Innovationen geht, sind wir sicherlich einer der Vorreiter weltweit. Aber im Alltag, den die Patienten erleben, sind wir – gemessen an unseren enormen Ausgaben – nicht dort, wo wir sein sollten.

Wo machen Sie das fest?

Ein großes Problem ist, dass wir unser Wissen vielfach nicht nutzen können. Wenn es zum Beispiel eine neue Erkenntnis im Arzneimittelbereich gibt, zum Beispiel wer von welchem Medikament profitiert, dauert es oft viele Jahre, bis das beim Arzt und somit beim Patienten ankommt.

Was müsste sich ändern?

Krankenhäuser, Ärzte, Kassen. Unser Gesundheitswesen ist sektoral stark abgekoppelt und Praxissysteme sind vor allem auf die Abrechnung von Leistungen ausgelegt. Dass es nun ab nächstem Jahr endlich die elektronische Patientenakte für alle geben wird, ist ein Meilenstein. Was wir aber bräuchten, ist ein noch viel stärkerer Daten- und Wissensaustausch. Alle Gesundheitsberufe müssten ständig miteinander kommunizieren und Informationen teilen. Es müsste immer klar sein, was gerade in der Versorgung eines Patienten stattfindet. Zudem bräuchte es eine Art Feedback-System für Ärzte und andere Gesundheitsberufe, anhand dessen sie die Qualität ihrer eigenen Arbeit wirklich erkennen können. All das gibt es heute nicht. Wir brauchen deshalb viel mehr Transparenz.

Kollidiert das alles nicht krachend mit Datenschutz-Bedenken?

Datenschutz ist wichtig, keine Frage. Wenn Datenschutz aber missbraucht wird, um Vernetzung und Transparenz zu verhindern, ist das Maß überschritten.

Wer tut das?

Früher kamen die Vorbehalte gegen mehr Transparenz vor allem aus der Ärzteschaft. Da sehe ich aber einen Wandel, weil gerade auch die jüngeren Ärzte erkennen, dass sie vom Austausch profitieren. Zudem hatten wir in den letzten Jahren sehr intensive Diskussionen mit Ulrich Kelber, dem Datenschutzbeauftragten des Bundes, weil die Hürden für die Nutzung von Daten sehr hoch gesteckt wurden. Wir setzen nun aber große Hoffnungen in die neue Bundesdatenschutzbeauftragte Louisa Specht-Riemenschneider, die Datennutzung mit einer positiven Grundhaltung sieht.

Haben Sie ein Beispiel, wie übertriebener Datenschutz schädlich sein kann?

Es gibt gerade eine neue Erhebung, dass die App für das E-Rezept nur von einem Prozent der Versicherten genutzt wird, weil die Identifikation und Registrierung aufgrund der deutschen Datenschutzvorgaben so aufwendig sind. In den Niederlanden oder in Spanien funktioniert das hingegen schon seit Jahren so, dass die Leute es auch nutzen wollen. Zudem ist es doch so: Wenn es keine Transparenz über Qualität gibt, können wir nicht lernen und besser werden. Und dafür sollten doch Daten da sein, besser zu werden.

Reden wir über Geld: Die Zusatzbeiträge für die Versicherten drohen nach oben zu schießen.

Wir sehen im Moment eine unglaubliche Ausgabendynamik, die schon in diesem Jahr dazu führt, dass der geschätzte Beitragssatz alle vorherigen Prognosen reißt. Und wenn sich nichts ändert, wird das in den nächsten Jahren so weitergehen. Aber dass die Beitragssätze dann bald bei über 20 Prozent liegen, halten wir alle nicht aus – übrigens auch unsere Wirtschaft nicht.

Wo liegt das Problem?

Es gibt viele Probleme. Im Grundsatz geht es darum, dass es zu viel Verschwendung und Ineffizienz gibt. Bezahlt wird nach Menge und nicht nach Ergebnis. Zudem hat der Staat Aufgaben auf die Beitragszahler abgewälzt, die eigentlich seine eigenen wären – zum Beispiel für die Versorgung von Bürgergeld-Empfängern, oder bei der Krankenhausfinanzierung.

Wie lässt sich diese Spirale stoppen?

Die Gesetzgebung verfolgt viele gute Ziele. Aber diese Ziele werden im Endeffekt immer teuer erkauft – nämlich mit extremen zusätzlichen Ausgaben. Ich glaube, es braucht ein Ausgaben-Moratorium. Das heißt: Keine ausgabensteigernden Gesetze oder Projekte mehr, bis alle verantwortlichen Akteure zusammengefunden haben, um aus dieser Dynamik herauszukommen. Dafür gibt es übrigens sogar historische Bezüge unter Gesundheitsminister Horst Seehofer in den 90er-Jahren.

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