Zermürbende Zeit: Auch diese Frau wartet seit fast neun Monaten auf die Rückkehr der Geiseln. © kna/Krogmann
Nirim – Der anhaltende Schrei von Rachel Goldberg-Polin geht durch Mark und Bein. „Hersh, hier spricht Mama“, verhallt es in der staubigen Wüstenluft. In Nirim, am Zaun zur Sicherheitszone rund zwei Kilometer vom Gazastreifen entfernt, haben sich Angehörige der nach Gaza verschleppten Geiseln versammelt, um ihre Hoffnung, ihren Schmerz und ihre Wut herauszuschreien. „Wir sind hier – so nah, wie wir unseren Kindern, Eltern, Großeltern, Partnern und Freunden kommen können. Wir schreien unsere Botschaften der Liebe und Ermutigung in die Lautsprecher; in der Hoffnung, dass sie uns hören können“, sagt Goldberg-Polin.
328 Tage sind vergangen, seit die Hamas den Süden Israels überfiel, 1200 Menschen tötete und rund 250 in den Gazastreifen entführte. 107 von ihnen sind immer noch dort, wenige Kilometer von den Lautsprechern und den verzweifelten Angehörigen entfernt. „328 Tage, in denen wir keinerlei Kommunikation mit unseren Liebsten haben. Wir sind hier, weil wir keine andere Wahl haben, aus purer Verzweiflung“, betont Goldberg-Polin.
Als die Angehörigen einer nach dem anderen das Mikrofon ergreifen, schweigt das schwere Gerät, mit dem Arbeiter des Kibbuz begonnen haben, die physischen Schäden des 7. Oktober wegzubaggern. 328 Tage Ungewissheit und Verzweiflung sind lauter als die entfernten Explosionen israelischer Angriffe auf Ziele in Gaza.
„Möge Gott sein Antlitz über euch erstrahlen lassen und euch gnädig sein“, spricht Rachel Goldberg-Polin den jüdischen Priestersegen über ihren Sohn Hersh und seine Mitgeiseln. „Schma Israel“ – höre, Israel, schließt Varda Ben Baruch, Großmutter einer Geisel, das wichtigste jüdische Gebet an. Neben Gebeten sind es Kampfansagen und Durchhalteparolen, die die Angehörigen sich, den Medien und dem Wüstenwind anvertrauen: „Wir werden nicht ruhen, bis ihr wieder zu Hause seid“, „Wir kämpfen weiter“, „Seid stark und haltet noch ein bisschen durch, wir sind es auch für euch.“ Immer wieder bitten sie um Vergebung – dafür, dass es ihnen bis jetzt nicht gelungen sei, die Lieben heimzuholen.
„Bis an jeden Ort der Welt“ werde er laufen, bis es ein Geiselabkommen gibt, verspricht Jehuda Cohen seinem entführten Sohn Nimrod und nennt den eigentlichen Adressaten seiner flehenden Klagen: die israelische Regierung unter Benjamin („Bibi“) Netanjahu, die den Gazagürtel nicht nur am 7. Oktober im Stich gelassen habe, sondern seither immer wieder; mit jedem Tag, der ohne Einigung über die Freilassung der Geiseln verstreiche.
„Bibi, vergiss unsere Werte nicht“, fleht Yarden Gonen, Schwester der Entführten Romi. „Ohne sie sind wir nichts, und haben wir keine Zukunft.“ Dann wendet sie sich auf Arabisch an die Hamas-Terroristen: „Halas, genug! Das ist nicht der Islam. Schämt euch und lasst unsere Geiseln frei!“
Ein Zug entlang des Grenzgebiets bildet den Abschluss der Aktion. Die Menge setzt sich in Bewegung. Dann wird der Schritt bestimmter. Als die Ersten zu laufen beginnen, ist kein Halten mehr. Der Zug strömt durch das offene Tor im Sicherheitszaun, auf die Grenze Gazas zu. Die Soldaten lassen den Familien einige hundert Meter Vorsprung. Dann schicken sie ihre Fahrzeuge hinterher, um die Menge zur Umkehr zu bewegen.
ANDREA KROGMANN