Thüringens traumatische Tage

von Redaktion

Wahlsieg mit Folgen: Thomas Kemmerich (l.) im Februar 2020 mit Thüringens rechtsextremem AfD-Fraktionsvorsitzenden Björn Höcke, einem seiner ersten Gratulanten. © dpa/Schutt

München – Thomas Kemmerich geht jetzt auf Nummer sicher. Der Thüringer FDP-Chef sagt das, was alle sagen, allerdings hat es bei ihm einen speziellen Klang. In einem Interview mit der „Welt“ hat er seiner Bundespartei gerade empfohlen, aus der Koalition auszusteigen: „Die Ampel ist fertig.“ Das Beharren auf den Status Quo könne er nicht nachvollziehen: „Die Menschen haben kein Vertrauen mehr in die Lösungskompetenz dieser Regierung.“

Das Kuriose daran ist, dass es auch um Kemmerichs Kompetenz zum Lösen komplizierter Aufgaben nicht immer zum Besten stand. Dieses Defizit ist der Grund, warum man ihn bundesweit überhaupt kennt. Im Frühjahr 2020 war er vier Wochen lang Ministerpräsident Thüringens, was schon unmittelbar nach der Wahl wie eine groteske Verzerrung des Wählerwillens aussah. Aufgestellt, um im dritten Wahlgang eine bürgerliche Alternative zu Linken und AfD anzubieten, war er plötzlich der Sieger. Als Kandidat einer Fünf-Prozent-Partei. Weil die AfD geschlossen für ihn stimmte.

Kemmerich war so unklug, die Wahl anzunehmen, ruderte kurz darauf wieder zurück, aber da war der Schaden schon irreparabel. Der erste Ministerpräsident, der mit den Stimmen der Rechtspartei ins Amt gehievt wurde, ist selbst FDP-intern seitdem Persona non grata. Finanzielle Unterstützung aus Berlin gibt es für den Landesverband nicht mehr.

Nicht nur der Name Kemmerich erinnert heute daran, dass selbst Wahlen in einem so kleinen Bundesland wie Thüringen mit seinen 2,1 Millionen Einwohnern Schockwellen durchs ganze Land senden können. Auch bei Annegret Kramp-Karrenbauer, damals CDU-Vorsitzende und Anwärterin auf die Kanzlerkandidatur, nahm die Karriere in jenen traumatischen Tagen schweren Schaden. Weil die Thüringer CDU gemeinsam mit der AfD gestimmt und so das Chaos erst mit ermöglicht hatten, kündigte sie kurz darauf ihren Rücktritt als Parteichefin an.

Die Minderheitsregierung, die im Frühjahr 2020 gebildet wurde und nur für eine Übergangszeit bestehen sollte, ist bis heute im Amt. Die Thüringer Verhältnisse sind immer besonders schwierig geblieben, daran dürfte sich auch nach dem kommenden Wahlsonntag nichts ändern. Im Bemühen, ohne AfD-Beteiligung eine Regierung zusammenzuzimmern, gibt es nur ein Denkverbot. Die CDU will mit der Linken weiterhin keine gemeinsame Sache machen.

Mit dem Linken-Spross BSW dagegen möglicherweise schon. Ministerpräsident Bodo Ramelow wunderte sich neulich, er selber sei „keinen Tag in der SED“ gewesen, dagegen komme Sahra Wagenknecht „original aus dieser Denke“. Wagenknecht selbst wurde gestern bei einer Wahlkampf-Veranstaltung in Erfurt mit roter Flüssigkeit bespritzt und unterbrach ihren Auftritt kurz. Ein Verdächtiger wurde in Handschellen abgeführt.

Christdemokraten äußern sich stets unverbindlich, wenn es um ihre Politik geht. Meist ist dann von einer „Blackbox“ die Rede. Man wisse halt noch nicht, was drinsteckt.

Dabei stimmt das nicht. Wagenknecht lässt keinen Zweifel an ihren Absichten. Gestern erneuerte sie ihre Forderung, die Schwerpunkte des BSW müssten sich in einem Koalitionsvertrag wiederfinden: Verzicht auf US-Mittelstreckenraketen in Deutschland und auf Ukraine-Hilfen. Eine künftige Landesregierung müsse sich auf Bundesebene dafür einsetzen.

Bodo Ramelow denkt da ganz anders. Ein Land, das angegriffen werde, müsse sich verteidigen dürfen, auch mit Waffenlieferungen aus dem Westen, argumentiert er. In seiner Partei bekommt der Ministerpräsident dafür einigen Gegenwind. Sonderlich beeindruckt scheint er davon nicht.

Das liegt auch daran, dass seine Popularitätswerte die der Linken in den Schatten stellen. Ramelow – der gar nicht aus dem Osten stammt, sondern aus dem niedersächsischen Osterholz-Scharmbeck – ist der mit Abstand beliebteste Spitzenkandidat in Thüringen. Das wird dem einzigen Ministerpräsidenten, den die Linke je stellte, aber nicht helfen, um im Amt zu bleiben. Die jüngsten Umfragen sehen die Linken bei 13 bis 14 Prozent, weit hinter AfD (30), CDU (21) und BSW (20).

Thomas Kemmerich betreffen all diese Rechenspiele wohl nicht mehr. Die jüngsten Umfragen sagen der FDP in Thüringen ein deutliches Scheitern an der Fünf-Prozent-Hürde voraus.

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