Harte Kritik an Rentenpolitik

von Redaktion

Gesund, gut ausgebildet, besserverdienend: Von der sogannnten Rente mit 63 profitieren oft nicht diejenigen, die wirklich nicht länger können, sagt der Experte. © Imago

München – 1964 sah noch alles blendend aus. In dieses Jahr fiel mit 1,35 Millionen Kindern der geburtenstärkste Jahrgang, den die Bundesrepublik je erlebt hat. „Kinder kriegen die Leute immer“, hatte Adenauer gesagt. Bis sie es dann nicht mehr taten. Die damalige Geburtenrate von 2,5 sank bis 1994 auf 1,2 Kinder pro Frau ab. 2024 liegt sie bei 1,5.

Die Folge: Heute macht der demografische Wandel Deutschland zu schaffen. Die geburtenstarken Jahrgänge von damals – die sogenannten Babyboomer – erreichen nach und nach das Rentenalter. Auf dem Arbeitsmarkt fehlen schon heute massenhaft Leute. Und in den kommenden Jahren scheiden jedes Jahr rund 400 000 Menschen mehr aus als nachkommen.

„Jede zehnte Arbeitskraft verschwindet bis 2032“, sagt Axel Börsch-Supan, unter anderem Direktor am Max-Planck-Institut für Sozialrecht und Sozialpolitik, am Donnerstagabend auf Einladung der Vereinigung der Bayerischen Wirtschaft (vbw). Er berät das Bundeswirtschaftsministerium, die Bundesbank und die EU-Kommission in Fragen von Rente und Demografie. Durch Migration allein sei der Aderlass nicht zu kompensieren. Aus dem Fachkräftemangel sei inzwischen ein Arbeitskräftemangel geworden. Und weil dadurch auch die Gewerkschaften an Macht gewinnen, werde gleichzeitig der Ruf nach weniger Arbeitsbelastung, mehr Teilzeit, mehr Homeoffice immer lauter. Fazit: „Wir müssen auf Dauer mit schwächerem Wachstum rechnen“, sagt Börsch-Supan.

Gleichzeitig steigt die Belastung auf das Rentensystem, weil zunehmend weniger Jüngere für mehr Ältere aufkommen müssen. Die Gründe sind positiv: Die Menschen sind gesünder, werden älter als früher. Doch darauf müsse man eben auch reagieren, sagt Börsch-Supan. „Wir müssen uns anpassen“, sagt er. Es nicht zu tun, sei wie im Winter mit kurzer Hose rumzulaufen – „dumm“.

Er hat Beispiele: Die besonders von der SPD hochgehaltene Haltelinie für das Rentenniveau bei 48 Prozent für alle sei angesichts der Demografie nicht haltbar. Zumal die Ausgaben in Zukunft enorm an Fahrt aufnehmen würden. Dazu komme: Die Beiträge immer stärker anzuheben und keine Abstriche beim Rentenanstieg zu machen, verschärfe das Problem, weil die Arbeitsbereitschaft der jüngeren Generationen sinken werde, wenn sie immer stärker belastet würden. „Wenn man dann auch noch das Rentenalter nicht anpasst, kommen wir nicht weiter“, sagt Börsch-Supan.

Dabei seien die Weichen noch Anfang des Jahrtausends anders gestellt gewesen. Während die SPD-Sozialminister Franz Müntefering und Olaf Scholz damals den Nachhaltigkeitsfaktor in der Rentenversicherung und die Erhöhung des Rentenalters auf 67 Jahre forcierten, standen ihre späteren Amtskollegen Andrea Nahles und Hubertus Heil (ebenfalls beide SPD) für die Rente mit 63 oder die Grundrente. „Die Ära Merkel hat einen atemberaubenden Wechsel vollzogen: von einer Sozialpolitik, die sich an der demografischen Entwicklung orientiert, zu einer, die ihr entgegenläuft“, sagt Börsch-Supan.

Gerade die viel diskutierte und stark genutzte Rente mit 63 – inzwischen eigentlich eine Rente mit 64 – mache in ihrer jetzigen Ausgestaltung „nicht viel Sinn“, sagt Börsch-Supan. Eine solche Regelung für Stahlkocher sei nachvollziehbar. Doch statt der oft angeführten Malocher profitierten vor allem Facharbeiter, deren Ausbildungszeiten angerechnet würden – oft überdurchschnittlich gesund, gut ausgebildet und besserverdienend. Wer sie treffen wolle, müsse nur unter der Woche in die Alpen gehen, sagt Börsch-Supan.

Was also müsste passieren? Börsch-Supan sieht vor allem drei Hebel. Erstens: Deutschland müsse mehr in Bildung und Technologie investieren, statt immer höhere Anteile in die Alterssicherung zu stecken. Denn während der Gesamtzuschuss zur Rente 2026 absehbar bei 26 Prozent des Bundeshaushalts liege, würde er bis 2036 schon auf 38 Prozent steigen, 2046 wären es 43 Prozent.

Zweitens: Deutschland müsse sein Arbeitspotenzial besser ausnutzen. Bei Älteren, bei Jüngeren ohne Berufsabschluss, bei der Teilzeitquote und bei der Integration von Migranten in den Arbeitsmarkt ließen sich noch Potenziale heben. „60-Jährige sind genauso produktiv wie 30-Jährige“, sagt Börsch-Supan.

Drittens: Der Sozialstaat müsse sich auf die fokussieren, die ihn wirklich brauchen. Während Geringverdiener durchaus über eine Haltelinie geschützt werden könnten, seien Besserverdienern mehr Investitionen in Privat- und Betriebsrenten zumutbar.

Eine Einbeziehung der Beamten in das Rentensystem sei hingegen kein gutes Geschäft, sagt Börsch-Supan, der selbst kein Beamter ist. „Sie leben oft länger und verdienen über Durchschnitt.“ Doch selbst wenn ihre Eingliederung somit teuer würde, spricht sich Börsch-Supan dafür aus – aus Gerechtigkeitsgründen.

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