Generalstreik für die Geiseln

von Redaktion

„Wir lassen sie nicht im Stich“: Angehörige, Freunde und Unterstützer der Hamas-Geiseln nehmen an einem Protest auf der Küstenstraße außerhalb des Kibbuz Yakum teil. © Ilia Yefimovich/dpa

Tel Aviv/Gaza – Der Schmerz treibt die Menschen auf die Straße, und die Wut: Nach dem Fund der Leichen von sechs Geiseln im Gazastreifen hat sich in Israel der Druck auf die Regierung massiv verstärkt. Ein großer Streik und die größten Massenproteste in Tel Aviv seit Kriegsbeginn sollten Regierungschef Benjamin Netanjahu dazu bewegen, einen Deal mit der islamistischen Hamas einzugehen. Ziel: die Freilassung der verbliebenen Geiseln.

Die Angehörigen der Entführten fordern das seit Monaten. Doch so kraftvoll wie in den vergangenen zwei Tagen tönte die Forderung bisher nicht durchs Land. Schon am Sonntagabend gingen die Menschen in Tel Aviv auf die Straßen – laut den Organisatoren waren es rund 300 000, landesweit eine halbe Million. „Wir werden sie nicht im Stich lassen“, skandierten sie mit Blick auf das Schicksal der verbliebenen 101 Geiseln. Sie marschierten mit blau-weißen Nationalflaggen auf zentralen Straßen der Stadt. Auf einer Bühne waren symbolisch die Särge der sechs getöteten Geiseln aufgebahrt. Stellenweise kam es zu Ausschreitungen.

Für Montag rief dann der einflussreiche Gewerkschaftsdachverband Histadrut zum Generalstreik auf. „Wir können nicht weiter zuschauen“, sagte Gewerkschaftsboss Arnon Bar David. „Wir müssen einen Deal abschließen, ein Deal ist wichtiger als alles andere.“ Die Beschäftigten vieler Organisationen und Behörden schlossen sich an, auch viele Städte und Gemeinden. Zwar beendete ein Arbeitsgericht den Generalstreik vorzeitig – aber das Signal kam an.

Hintergrund der neu entfachten Wut ist der Schock, der Israel am Sonntagmorgen heimsuchte. Da gab die Armee bekannt, dass die Leichen von sechs Geiseln in einem Tunnel im südlichen Gazastreifen gefunden wurden – sie wurden offenbar kurz zuvor von ihren Entführern erschossen. Die Demonstranten geben der Regierung um Ministerpräsident Benjamin Netanjahu eine Mitschuld daran. Denn die Verhandlungen über eine Freilassung der Geiseln laufen seit Monaten schleppend.

Am Montagabend rang sich Netanjahu zumindest zu einer Geste durch und bat die Angehörigen der Toten um Vergebung. „Ich bitte Sie um Vergebung, sie nicht lebend zurückgebracht zu haben“, sagte er bei einer im Fernsehen übertragenen Pressekonferenz. „Wir waren nah dran, aber es ist uns nicht gelungen.“

Zugleich drohte er aber mit Vergeltung. „Die Hamas wird einen hohen Preis dafür zahlen.“ Bei den Verhandlungen über eine Waffenruhe will Netanjahu wohl nicht nachgeben. Israel müsse über das Gebiet an der Grenze zwischen dem Gazastreifen und Ägypten die Kontrolle behalten, sagte er. Dadurch werde sichergestellt, dass die verbliebenen Geiseln „nicht aus dem Gazastreifen herausgeschmuggelt werden“.

Israels Rückzug aus dem sogenannten Philadelphi-Korridor gehört zu den zentralen Streitpunkten bei den Verhandlungen, die nicht nur eine Waffenruhe in dem Palästinensergebiet, sondern auch die Freilassung aller verbliebenen aus Israel in den Gazastreifen verschleppten Geiseln zum Ziel haben. Die USA dringen gemeinsam mit den anderen beiden Vermittlern Ägypten und Katar seit Monaten darauf. US-Präsident Joe Biden warf Netanjahu gestern in Washington vor, nicht genug für einen Deal zu tun.

Israels Präsident Izchak Herzog bat die Angehörigen der getöteten Geisel Hersh Goldberg-Polin um Vergebung, „dass es uns nicht gelungen ist, euren Hersh lebendig zurückzubringen“. In seiner Trauerrede auf der Beerdigung des 23-Jährigen sagte er, man müsse nun „die retten, die noch gerettet werden können“.
MMÄ/DPA

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