INTERVIEW

„Die Hisbollah ist wieder erstarkt“

von Redaktion

Hilfsverein-Gründerin über die schwere Lage im Libanon – und Islamisten aus Geldnot

München – Jaqueline Flory kennt den Libanon und die Hisbollah aus der Nähe. Die Münchnerin betreibt mit ihrem Verein Zeltschule vor allem im libanesisch-syrischen Grenzgebiet Schulen, wo hunderttausende syrische Flüchtlingskinder in extremer Armut leben. Es brauche viel mehr Aufmerksamkeit für die katastrophale Situation dieser Menschen, sagt Flory. Auch auf Spenden sei man dringend angewiesen.

Frau Flory, wie ist die Lage im Libanon?

Im Moment herrscht Chaos. Es gibt eine Ausgangssperre. Nur für Krankentransporte und Erste Hilfe darf man nach draußen. Nach den tausenden fast zeitgleichen Detonationen hat sich Panik breitgemacht. Auch aus einer unserer Schulen in einem Armenviertel von Beirut kamen sofort dutzende Anrufe. Es hat Stunden gedauert, bis überhaupt klar war, was passiert ist.

Gab es auch Explosionen in Ihrer Schule?

Nein, weil wir schon seit Gründung des Projekts Sicherheitsabstand zur Hisbollah halten. Allerdings merken wir, dass zuletzt massiv von der Hisbollah rekrutiert wurde – auch in der Gegend unserer Schule. Viele junge Männer wurden als Mitarbeiter geworben – darunter auch viele, die ideologisch ganz anders gepolt sind. Und die wurden natürlich auch von diesen Explosionen getroffen.

Warum arbeiten diese Männer für die Hisbollah?

Das libanesische Pfund ist quasi wertlos. Im Supermarkt wird mit dem Lineal bezahlt. Das heißt: Wen man ein Stück Brot kauft, wissen die Händler, dass man ungefähr 20 Zentimeter Hundert-Lira-Scheine hinlegen muss. Gezählt wird nicht mehr. Der US-Dollar ist dagegen die harte und begehrte Währung. Und die Hisbollah ist die einzige Institution im Libanon, die in US-Dollar bezahlt.

Was halten die Menschen im Libanon grundsätzlich von der Hisbollah?

Gerade ältere Libanesen sagen mir, die Situation heute ist weit schlimmer als während des letzten Krieges. Es gibt keine Medikamente, keine Hygiene-Produkte. Die Wahrnehmung ist: Schlechter kann es nicht mehr werden, selbst nach einer offiziellen Kriegserklärung nicht. Aus dieser Situation heraus ist die Hisbollah in den letzten Monaten wieder erstarkt. Dabei war nach den Protesten und den Explosionen im Hafen von Beirut 2019 ihr Ansehen im Land katastrophal. Von allen Seiten kamen Stimmen, man müsse sich aus der Geiselhaft dieser Organisation befreien. Als dann die ersten von der Hisbollah provozierten Angriffe Israels kamen, war es erschreckend zu sehen, wie schnell diese Stimmung wieder gekippt ist und die Hisbollah wieder als einziges Bollwerk gegen den israelischen Feind angesehen wird.

Sehen die Libanesen die Pager-Explosionen als Angriff auf alle im Land?

Es wird als Angriff auf die Hisbollah verstanden. In der libanesischen Berichterstattung ist zwar vor allem von verletzten Zivilisten die Rede, darunter viele Kinder. Meine Kontakte bei der Civil Defense, die die Notfallversorgung durchführt, sagen aber, dass von 200 Opfern, die sie transportiert haben, etwa 180 erwachsene Männer in mittlerem Alter waren, die wahrscheinlich der Hisbollah angehören. Interview: Sebastian Horsch

Artikel 4 von 11