KOMMENTAR

Worauf wartet Lindner denn immer noch?

von Redaktion

Herbst der Entscheidungen

Im von FDP-Chef Christian Lindner ausgerufenen „Herbst der Entscheidungen“ hat zu ihrem großen Glück die Union die ihre schon getroffen: Friedrich Merz soll Kanzler werden. Wie gut der Oppositionsführer beraten war, als er seinem Rivalen Markus Söder die Klärung der K-Frage schon vor der Brandenburgwahl aufzwang, zeigt der Katzenjammer danach. Die CDU-Wahlpleite bedeutet zwar keinen Rückenwind für Merz, löst jetzt aber auch keine großen Debatten mehr aus. Nicht mal die üblichen Verdächtigen in der Union werden es wagen, dem frischgekürten Kandidaten die Schuld an der Potsdamer Havarie anzulasten.

Merz kann jetzt genüsslich zusehen, wie andere sich zerlegen. Den Schwarzen Peter der quälenden Personaldebatte hat seit Sonntag die SPD. Der Triumph des brandenburgischen Helden und Anti-Scholz-Wahlkämpfers Dietmar Woidke ist für die Genossen wie eine Verheißung. Auf Bundesebene Wirklichkeit aber kann sie nur werden, wenn sie ihren Kanzler davonjagen und durch Boris Pistorius ersetzen. Was Generalsekretär Kühnert und Parteichef Klingbeil am Wahlabend in die Mikrofone zu sagen hatten, konnte dem Kanzler nicht gefallen. Ein Sieg bei der Bundestagswahl werde „nicht wie ein Wunder“ passieren, ätzte Kühnert in Richtung des Regierungschefs. Das süße Gift des Sieges in Potsdam wird Olaf Scholz umso mehr schwächen, je weniger es ihm gelingt, in der Ampel die Initiative zurückzugewinnen.

Ein Erfolg des Kanzlers erscheint vor allem wegen der verzweifelten Lage der FDP ausgeschlossen. Die tief gedemütigten Fast-Ein-Prozent-Liberalen stehen vor einer brutalen Wahl: Sie können noch ein Jahr lang Ministerämter und Dienstwägen behalten, weiter auf Krawall setzen und sich dann mit einem leisen Seufzer aus der Bundespolitik verabschieden, vermutlich für immer. Oder sie versuchen in einer letzten Verzweiflungstat, sich doch noch aus der tödlichen Ampel zu befreien, um den Parteimitgliedern ihren tief verletzten Stolz zurückzugeben – und allen anderen Wählern den Glauben daran, dass die etablierten Parteien den demokratischen Wechsel organisieren können und es die Extremen dazu nicht braucht. Ob das zum Überleben reicht, weiß heute niemand. Den Versuch aber ist es allemal wert. Im November, wenn der Bundeshaushalt verabschiedet werden muss, schließt sich für die FDP das letzte Zeitfenster. Worauf also wartet Lindner noch?
GEORG.ANASTASIADIS@OVB.NET

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