Da lang? Die grünen Bundesminister Cem Özdemir (li.) und Robert Habeck. © dpa
München – Es geht nicht etwa um Glyphosat oder Anbindehaltung. In einem Gastbeitrag für die „FAZ“ hat Landwirtschaftsminister Cem Özdemir über seine Tochter geschrieben – und über die Grenzen von Migration und Integration. Er thematisierte „Zumutungen“, denen junge Frauen in Berlin ausgesetzt seien, die wie seine Tochter „von Männern mit Migrationshintergrund unangenehm begafft oder sexualisiert werden“. Das „liberal-progressive Lager“ sei gefordert, „die notwendigen Änderungen an der Asyl- und Migrationspraxis“ umzusetzen, schrieb Özdemir, dem nachgesagt wird, er wolle seinem Parteifreund Winfried Kretschmann als Ministerpräsident in Baden-Württemberg nachfolgen.
Die Gegenreaktion ließ nicht lange auf sich warten. „Die Grünen sind keine Partei, die sich mehrheitlich dazu entscheidet, rechten Narrativen hinterherzulaufen“, erklärte der genau diesem Lager zugehörige Leiter der Grünen im Europaparlament, Erik Marquardt. „Dafür werden wir sorgen.“
Doch Özdemir ist nicht der einzige Grüne, der fordert, sich stärker den Schattenseiten zu stellen, die zu wenig gesteuerte Migration mit sich bringt. Bei der bayerischen Landesdelegiertenkonferenz in Würzburg in drei Wochen stehen zwei Anträge auf der Tagesordnung, die das Thema ebenfalls aufgreifen.
Einer dieser Anträge stammt von der fränkischen Bundestagsabgeordneten Manuela Rottmann. „Die Integrationsfähigkeit eines Landes ist keine starre Größe, sie ist aber auch nicht beliebig und vor allem nicht kurzfristig zu vergrößern“, heißt es darin. Nötig sei „eine Stabilisierung der Zahl der hier zu versorgenden Geflüchteten auf einem für die Integration leistbaren Niveau“. Belegte Turnhallen seien hingegen weder für die Gesellschaft noch für die Geflüchteten eine wünschenswerte Situation. Auch die Klarstellung, dass „auf Radikalisierung, schwere Kriminalität und Gewalt schnelle und klare Reaktionen erfolgen“ müssten, findet sich im Antrag. „Die Abschiebung von Gefährdern und Straftätern ist richtig“, heißt es ausdrücklich in dem Text.
Sätze, die man nicht unbedingt sofort den Grünen zugeordnet hätte – auch wenn Rottmann im Papier gleichzeitig das Selbstverständnis der Partei als Stimme für Integration und universelle Menschenrechte betont. Allerdings: „Die Differenzierung, deren Fehlen wir bei anderen oft zu Recht kritisieren, müssen wir auch selbst leisten.“ Unterstützt wird der Antrag von 71 Grünen – darunter auch Landtagsvizepräsident Ludwig Hartmann.
Ein Anruf bei der Initiatorin. Es sei ihr auch darum gegangen, den „Sound“ zu verändern, sagt Rottmann. Denn während die Union unzulässige Verallgemeinerungen bediene, wenn sie pauschal eine „Migrationskrise“ beklage, verfielen einige Grüne zu oft ins „Moralisieren“. Der „Pfad der Lösung“ liege aber irgendwo dazwischen. Die Grünen dürften nicht in die Falle geraten, aus Furcht vor Verallgemeinerungen und Ressentiments Probleme nicht zu adressieren. Selbst aus der Fluchthilfe kämen schließlich Rückmeldungen, dass man an Grenzen geraten sei. Rottmann sagt: „Wenn die Leute das Gefühl haben, du erkennst ihre Wahrnehmung nicht an, verlierst du den Zugriff auf die Debatte.“ Auch Cem Özdemir habe das erkannt.
„Ich finde, wir können hier selbstbewusster auftreten“, sagt hingegen die Münchner Bundestagsabgeordnete Jamila Schäfer unserer Zeitung. Es sei richtig, dass „es in progressiven Parteien in der Vergangenheit vielleicht zu viel Zurückhaltung gab, eine islamistische Variante von toxischer Männlichkeit als Integrationsproblem zu diskutieren“. Doch: „Nicht die Grünen haben die Migrationspolitik der vergangenen Jahrzehnte zu verantworten, sondern konservative Parteien. Wir waren immer die Partei, die für mehr Integration, faire Verteilung in Europa und substanzielle Fluchtursachenbekämpfung steht.“ Einen neuen Sound bräuchten die Grünen deshalb nicht. „Wir haben gute Lösungsansätze und müssen uns trauen ,,die selbstbewusst in die Debatte zu bringen“.