Bunte Gesellschaft: Kevin Kühnert (l.), bis Montag SPD-Generalsekretär, feiert sie hier beim Christopher Street Day in Bremen. © dpa/Sina Schuldt
München – Kevin Kühnert und Jens Spahn stimmen nicht in vielem überein, aber in diesem Punkt hat der SPD-Mann die volle Unterstützung. Kühnerts Aussage, als schwuler Mann müsse er sich „aus muslimisch gelesenen Männergruppen“ häufiger homophobe Sprüche anhören, hätte auch vom CDU-Abgeordneten Spahn stammen können. Der drückt es nur drastischer aus. „Es ist schlicht die Realität“, sagt Spahn, einer der prominentesten schwulen Politiker des Landes, dem „Tagesspiegel“. „Deutschland ist durch irreguläre Migration homophober, frauenfeindlicher und gewaltaffiner geworden.“
Zehn Tage ist es her, dass Cem Özdemir sich kritisch mit der Migrationspolitik befasste. Dem grünen Landwirtschaftsminister ging es noch primär um das Frauenbild von Flüchtlingen, beispielhaft führte er die Erfahrungen seiner Tochter an („unangenehm begafft“). Kühnert ergänzte, als schwuler Mann könne er „erahnen, was er meint“. Und nun Spahn. Es ist die ganz große Koalition.
Tatsächlich deuten Statistiken darauf hin, dass es einen Zusammenhang zwischen Flüchtlingszahlen und übergriffigem Verhalten gibt. Das Bundeskriminalamt verzeichnet in seinem Lagebild bei „Straftaten gegen die sexuelle Selbstbestimmung“ seit Jahren einen Anstieg bei Fällen mit tatverdächtigen Zuwanderern. Das deutliche Plus von 2016 (3404) auf 2017 (5258) ließ sich noch dadurch erklären, dass sexuelle Belästigung nicht mehr als Beleidigungsdelikt definiert wurde, sondern erstmals als Sexualdelikt. Aber auch seitdem gingen die Zahlen stetig hoch. 2018 waren es 6046, 2021 schon 6906, Ende 2022 standen 7554 Fälle zu Buche.
Auch in Bayern nahmen Straftaten gegen die sexuelle Orientierung von 37 (2020) auf 156 (2023) zu. Dennoch zögern Ermittler, einen klaren Zusammenhang zwischen Fall- und Flüchtlingszahlen zu benennen. Das Landeskriminalamt weist darauf hin, dass der Anstieg auch mit einer aufmerksameren Gesellschaft und Fortschritten in der täglichen Arbeit zu tun habe. Das zeige sich bei wachsenden Fahndungserfolgen ebenso wie bei der höheren Sensibilität der Interessenvertreter. Die werden vom LKA seit Jahren ermuntert, Hassdelikte früher anzuzeigen. Die Statistik könnte sowohl steigende Täterzahlen belegen als auch eine sinkende Hemmschwelle der Opfer.
Andreas Unterforsthuber verfolgt die Debatte mit Unbehagen. Der Leiter der Münchner Koordinierungsstelle zur Gleichstellung von LGBTIQ sieht einen Trend, der mit der Spaltung der Gesellschaft einhergehe: „Minderheiten werden stärker attackiert, die Gleichstellung der Menschen geht zurück.“
Er moniert, die Frage nach einem Zusammenhang zwischen Migration und Homophobie werde „oft instrumentalisiert, um Stimmung gegen Ausländer zu machen“. Unterforsthuber verweist auf den Sicherheitsreport der Münchner Polizei aus dem vergangenen Jahr. Bei 77 Fällen von Hasskriminalität gegen die sexuelle Orientierung seien nur vier einer ausländischen Ideologie zuzuordnen – dem rechten Spektrum 24. Ähnlich sei es im Bereich der geschlechtsbezogenen Diversität: In zwei von 47 Fällen vertraten Täter eine fremde Ideologie, in 15 stammten sie aus dem rechten Milieu.
In der Hauptstadt mit ihrem rauen Klima kann sich das anders anfühlen. Kühnert, in Migrationsfragen wahrlich kein Scharfmacher, nennt „konservative Rollenbilder und religiösen Fundamentalismus“ als Treiber von Homophobie, wie er sie zu spüren bekommt. Auch Spahn beklagt eine „kulturelle Prägung aus dem arabisch-muslimischen Raum“. Der Politik wirft er vor, das Thema zu scheuen: „Leider gestehen zu viele Politiker das nur hinter vorgehaltener Hand.“
Das dürfte in erster Linie auf die Grünen abzielen, denen der Vorwurf anhaftet, die Schattenseiten der Migration auszuklammern. So pauschal trifft das allerdings auch nicht zu. Nicht nur, weil die aktuelle Debatte von Özdemir ausgelöst wurde. Bereits 2019 verfassten die Grünen-Abgeordneten Manuela Rottmann und Ekin Deligöz ein vielbeachtetes Papier. Es behandelte das Frauenbild von Migranten und attestierte einem Teil von ihnen eine Einstellung, die „die Nichtachtung von Frauen zu legitimieren scheint“. Das reiche „bis hin zur Ausübung von Gewalt“.