KOMMENTARE

Zwischen Nostalgie und Zukunftsangst

von Redaktion

Besuch von US-Präsident Joe Biden

Es ist späte Premiere und früher Abschied zugleich: Joe Biden kommt kurz vor seinem Auszug aus dem Weißen Haus zum ersten Staatsbesuch nach Berlin. Dabei hatte – man darf schon die Vergangenheitsform verwenden – der inzwischen 81-Jährige eine enge Beziehung zu Deutschland, vor allem nach München, wo er Jahrzehnte lang Stammgast der Sicherheitskonferenz war. Mit ihm verabschiedet sich der letzte Präsident, für den die transatlantische Allianz mit der politischen Sozialisierung während des Kalten Kriegs eine Selbstverständlichkeit war. Bei seinem Besuch dürfte diese Verbundenheit heute zelebriert werden. Und trotz der Kriege in der Ukraine und Nahost, denen selbst die Amerikaner keinen Einhalt gebieten können, wird ein Hauch Nostalgie in der Luft liegen.

Die bange Frage bleibt, was nach dem 5. November geschieht. In fast allen europäischen Hauptstädten hofft man auf einen Sieg von Kamala Harris. Doch auch sie entstammt einer anderen Generation als Biden. Sie muss sich mit einer wachsenden Nato-Skepsis in den USA und neuen geopolitischen Bedrohungen auseinandersetzen. Das Augenmerk richtet sich auf China, das Washington längst als größte weltpolitische Konkurrenz (und Gefahr) sieht. Auch unter Harris wird sich diese Verschiebung stärker in militärischen Entscheidungen niederschlagen – beispielsweise bei der Stationierung von Truppen in Deutschland.

Richtig sorgen müsste sich Europa aber vor einer Rückkehr von Donald Trump ins Weiße Haus. Zwar gilt noch immer der alte Spruch, man sollte seine vielfältigen Drohungen ernst nehmen – aber nicht unbedingt wörtlich. Doch der Einfluss radikaler Kreise auf Trump wächst, man darf nicht mehr auf mäßigenden Einfluss von Ministern und Beratern wie während der ersten Amtszeit zählen. Dabei geht es nicht nur um Ankündigungen wie einen Deal mit Russland über den Kopf der Ukraine hinweg oder eine Aufkündigung der Sicherheitsgarantie für Nato-Verbündete, sondern auch um mögliche innenpolitische Verwerfungen in Washington. Eine schwankende Führungsmacht würde für die Nato zum Problem.

So oder so: Dem Bündnis drohen unruhige Zeiten, Europa muss autarker von den USA werden. Die Erkenntnis ist keineswegs neu, doch die Umsetzung hakt gewaltig. In Deutschland, wo die „Zeitenwende“ groß angekündigt, aber nur halbherzig umgesetzt wurde. In Europa, wo es bei der Vergabe von Rüstungsaufträgen noch immer zu wenig Absprache gibt und zu oft entlang nationaler Interessen (Rüstungsindustrie!) gedacht wird. Am 6. November droht ein böses Erwachen.
MIKE.SCHIER@OVB.NET

Artikel 1 von 11