Das Vermächtnis eines Helden

von Redaktion

Vor gut acht Monaten starb der Kremlgegner Nawalny im sibirischen Straflager. Trotz Folter verfasste er dort seine Autobiografie „Patriot“, die auch eine Anklageschrift gegen Putin ist.

Nawalny 2015 mit seiner Tochter Dascha. © Konstantinow

Alexej als Achtjähriger im Jahr 1984. © privat

Nawalny am Krankenbett in der Charité mit Tochter Dascha, Sohn Zahar und Frau Julija. © dpa

München – Schon die ersten Sätze zeigen, dass da einer nicht einmal den eigenen Tod so richtig ernst nehmen mag: „Sterben tut nicht wirklich weh. Wenn es nicht mein letzter Atemzug gewesen wäre, hätte ich mich niemals neben der Flugzeugtoilette auf den Boden gelegt. Wie Sie sich vorstellen können, war er nicht unbedingt sauber.“

So beschreibt Alexej Nawalny in „Patriot. Meine Geschichte“ den Moment, als er auf dem Flug von Moskau nach Tomsk vom russischen Geheimdienst vergiftet wurde. Die Zeit der Genesung in Deutschland nutzte Wladimir Putins schärfster Konkurrent, um seine Lebensgeschichte aufzuschreiben – seine Jugend in der Sowjetunion, seine anfängliche naive Begeisterung für Boris Jelzin und seinen Kampf gegen Putins Regime. Julija Nawalnaja, seine Frau, stellte die mehr als 500 Seiten dicke Autobiografie nach seinem Tod am 16. Februar im Straflager „Polarwolf“ in der Arktisregion fertig – und verwendete dafür auch Nawalnys Tagebuchaufzeichnungen über den Lager-Alltag.

Auch Nawalnaja unterstreicht, dass ihr Mann selbst in den dunkelsten Stunden der Haft – trotz Folter und Krankheit – nie seinen Humor und Optimismus verlor. Sie habe immer wieder lachen und weinen müssen, als sie an dem Buch arbeitete, erzählt die 48-jährige Witwe.

So sarkastisch und witzig der Tonfall des Buches, so bitter und böse ist das, was Nawalny darin beschreibt: Die Raffgier der Putin-Mafia, die mit 620 000 Dollar teuren Luxus-Uhren Partys feiert, während ein Fünftel der Russen unter der Armutsgrenze von 160 Dollar im Monat leben muss. Und Nawalny erzählt von der Gnadenlosigkeit, mit der Putin auf solche Enthüllungen reagiert – mit „aktiven Maßnahmen“, was im KGB/FSB-Sprech so viel bedeutet wie: unliebsame Personen, die wie Nawalny das verbrecherische System stören, werden beseitigt.

Nawalny antwortet ausführlich auf die große Frage, warum er trotz Todesgefahr nach Moskau zurückkehrte. Nur so könne er glaubhaft in seiner Liebe zu Russland sein. Alles andere wäre Verrat.

Seine Biografie beleuchtet nicht zuletzt den schwierigen Balanceakt, für politische Überzeugungen Familienglück und das eigene Leben zu opfern. „Mir war von Anfang an bewusst, dass ich lebenslang im Gefängnis sitzen werde“, heißt es an einer Stelle und an einer anderen: „Ich werde den Rest meines Lebens im Gefängnis verbringen und dort sterben. Es wird niemand da sein, von dem ich mich verabschieden kann.“ Nawalny schildert auch, wie die Gefangenen jeden Abend mit patriotischen Filmen genervt werden, wie die anderen Häftlinge gegen ihn aufgehetzt wurden, aber auch von Solidarität unter den Gefangenen.

„Hör zu, ich möchte nicht dramatisch klingen, aber ich glaube, es besteht eine hohe Wahrscheinlichkeit, dass ich hier nicht mehr rauskomme“, erklärt Nawalny seiner Julija beim ersten längeren Besuch im Lager. „Selbst wenn alles zusammenzubrechen beginnt, werden sie mich umlegen, beim ersten Zeichen, dass das Regime kollabiert. Sie werden mich vergiften.“ Julija antwortet darauf: „Ich weiß. Das habe ich mir auch gedacht.“ Nawalny meint zu dieser Tapferkeit und Gefasstheit seiner Frau, dies sei „einer jener Momente, in denen du erkennst, dass du die richtige Person gefunden hast“.

Alexej Nawalnys „Patriot“ ist zwar nicht in Russland, aber auf Russisch erschienen. Und in 19 weiteren Sprachen, darunter auf Deutsch (Verlag S. Fischer). Es ist das bewegende Vermächtnis eines Helden, der für seine Überzeugungen und für seine Hoffnung auf ein besseres Russland zu sterben bereit war.

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