WIE ICH ES SEHE

Schreckliche Mails „an alle“

von Redaktion

Die Freiheit, mit jedem zu jedem Zeitpunkt in Verbindung zu stehen – eigentlich ist das ein großes Glück. Früher gab es dazu allenfalls Briefe. Liebesbriefe vor allem waren gefährlich, wenn sie fehlgeleitet wurden. Das weiß jeder, der eine unserer klassischen Opern angeschaut hat oder auch ein Schauspiel von Shakespeare.

Goethe traf 1787 in Rom eine schöne, intelligente, junge Mailänderin aus der Mittelschicht. Die klagte ihm ihr Leid, dass sie als junges Mädchen nicht schreiben lernen durfte. Damit sollte verhindert werden, dass sie in Versuchung kam, etwa einen Liebesbrief zu schreiben. Das Lesen wurde ihr beigebracht, aber nur, damit sie in der Bibel lesen konnte.

So ist vor allem die digitale Revolution ein wunderbarer Befreiungsschlag, auch wenn es meistens dabei nicht um Austausch unter Liebenden geht. Über unser Smartphone, unseren Computer sind wir dauernd „online“, es sei denn, wir schlafen oder wir sind tot.

Diese Überkommunikation kann aber auch seltsame Formen annehmen. Auf Zugreisen erleben wir das Niveau von Telefonaten wie dieses: Er: Wir sind gleich in Augsburg, es regnet. Sie: Ja, hier regnet es auch. Er: Ich bin so gegen 19.30 Uhr da – was gibt es denn zum Abendessen? Sie: Ich dachte nur kalt, Du warst doch in der Kantine. Er: Ja, aber war ein langer Tag….

Auf solchen familiären Telefonaustausch müssen wir wenigstens nicht reagieren. Lästiger sind die Mails „an alle“, denen wir an unserem Arbeitsplatz ausgesetzt sind. Da wird eine Antwort erwartet, auch wenn es um banale Themen geht:

Fabian: Es ist schon wieder Unordnung in unserer kleinen Kaffeeküche. Zum dritten Mal in diesem Monat hat jemand meine Tasse mit dem Käfer-Logo verräumt. Ich verbinde schöne Erinnerungen damit. Marion: Die wird schon wieder auftauchen. Hier stiehlt niemand. Wir leben ja schließlich in Deutschland und nicht in Tegucigalpa. Timo: Tegucigalpa, wo ist das denn bitte überhaupt? Susanne: Das ist doch die Hauptstadt von Honduras. Aber was haben wir damit zu tun? Es ist doch total übergriffig, diese braven Leute dort zu verdächtigen, nur weil die Kaffeetasse von Fabian verräumt ist. Marion: Entschuldigung, ich wollte natürlich niemanden diskriminieren. Susanne: Und übrigens, Deutschland ist auch nicht mehr das, was es war. Neulich ist mein Fahrrad gestohlen worden, direkt bei uns im Hof.

Timo: Ja, Du musst es eben besser sichern. Aber trotzdem, möchte denn einer von uns in Tegucigalpa leben? Fabian: Ich kann Entwarnung geben, die Tasse ist gefunden. War nur verdeckt hinter dem PC auf meinem Schreibtisch – Entschuldigung, dass ich Euch alle damit behelligt habe. Marion an Timo: So ein Idiot, uns mit seiner Tasse die Zeit zu stehlen – aber bitte lösche diese Mail sofort. Möchte ja keinen Ärger. Nur nächstens drücke ich gleich auf delete.

Schreiben Sie an:

ippen@ovb.net

Artikel 6 von 11