37335 Haftbefehle offen

von Redaktion

Bayern gilt in Sachen innere Sicherheit als vorbildlich. Doch eine Statistik passt nicht in die Bilanz: Jüngsten Zahlen zufolge sind 37335 Haftbefehle im Freistaat offen – Tendenz steigend. Die Fahnder seien nicht zielgenau, finden die Grünen.

Fahndungserfolg: 12184 offene Haftbefehle konnte die bayerische Polizei 2023 mit einer Festnahme beenden – nicht genug. © IMAGO

München – Jürgen Köhnlein kennt die Zahlen – und das Problem. „Das ist natürlich nicht schön für uns“, seufzt der Landesvorsitzende der Deutschen Polizeigewerkschaft (DPolG), wenn man ihn nach den vielen offenen Haftbefehlen in Bayern befragt. „Wir haben ja den Bürgern ein Sicherheitsversprechen gegeben.“ Aber es sei nun einmal personell unmöglich, jedem offenen Haftbefehl nachzujagen.

Im August hatte das Innenministerium die jüngsten Zahlen veröffentlicht: Zum 1. Januar 2024 waren in 37335 Fälle offen. Alles Menschen, die eigentlich in U-Haft sitzen, eine Haftstrafe verbüßen oder zumindest eine Geldstrafe bezahlen müssten? Die Landtags-Grünen wollten deshalb vom Ministerium die Entwicklung der letzten Jahre wissen. Jetzt liegt die Antwort vor: 2010 hatte die Zahl lediglich etwas mehr als 26000 betragen, später ging sie sogar mal kurz zurück. Aber eigentlich steigt sie konstant seit 2012 – von einer kleinen Corona-Delle mal abgesehen. In 14 Jahren ein Zuwachs um 50 Prozent!

„Noch so gute Ermittlungen und Aufklärungsquoten laufen ins Leere, wenn nach dem Urteil die Strafe nicht folgt“, sagt der grüne Innenpolitiker Florian Siekmann, der die Anfrage gestellt hat. „Die Söder-Regierung lobt sich ständig selbst für die Sicherheit, versäumt aber in sträflicher Weise den Vollzug verhängter Strafen.“ Sie beschädige damit den Rechtsstaat.

Erst seit 2020 liefert die Statistik auch Rückschlüsse auf die Art des Deliktes. Bei Straftaten „gegen das Leben“ schwankt die Zahl der offenen Haftbefehle relativ konstant zwischen 430 und 450. Bei den Gewaltdelikten aber gibt es eine Tendenz nach oben. Im (Corona-)Jahr 2020 waren hier 1907 Haftbefehle offen, 2023 schon 2170. „Im Bundesvergleich ist die Söder-Regierung Schlusslicht, nirgends sind mehr Haftbefehle offen“, sagt Siekmann. „Wir brauchen dringend mehr Zielfahndung, vor allem im Bereich der Gewaltkriminalität.“ Die CSU begründe die stationären Grenzkontrollen gerne auch mit dem Vollzug von Haftbefehlen. „Aber auf den Trend wirkt sich das kein Stück aus.“ Stattdessen brauche es mehr Personal und besondere Fahndungstage, an denen systematisch Haftbefehle vollstreckt würden.

Müssen sich die Bürger also Sorgen machen? In ganz vielen Fällen handele es sich um sogenannte Ersatzfreiheitsstrafen, erklärt Polizeigewerkschaftler Köhnlein. Das heißt: Weil Menschen ihre Bußgeldbescheide nicht zahlen, werden sie zur Fahndung ausgeschrieben. Insider berichten, dass hier die bayerische Justiz deutlich konsequenter vorgehe als in anderen Bundesländern. „Aber wir haben schlicht nicht die Kapazitäten, dass wir uns um alle kümmern können“, sagt Köhnlein. Es gehe auch um die Prioritätensetzung. Selbst wenn es noch mehr Polizisten gäbe, bleibe Wichtigeres zu tun.

Die Frage ist nur: Warum Haftbefehle ausstellen, wenn alle wissen, dass sie nicht vollstreckt werden? Seit Längerem wird in Deutschland beispielsweise über die Strafen für Schwarzfahrer diskutiert. Bundesweit sitzen Tausende im Gefängnis, die ihre Geldstrafe fürs Schwarzfahren nicht bezahlen können (oder wollen). Die Kosten dafür sind hoch, weshalb immer mehr Kommunen inzwischen auf Strafanzeigen verzichten.

„Die Zahl der offenen Haftbefehle ist mit großer Vorsicht zu lesen“, warnt auch ein Sprecher des Innenministeriums. Selbst bei schwereren Delikten sei es nicht so, dass Verbrecher in gleicher Personenzahl frei herumlaufen. Erstens könne es sein, dass auf einen Kriminellen gleich mehrere Haftbefehle wegen verschiedener Delikte ausgeschrieben seien. Und zweitens blieben die Haftbefehle auch offen, wenn Verdächtige wegen anderer Delikte im Ausland viele Jahre in Haft säßen. Zu was die Fahnder fähig sind, ist jedenfalls offensichtlich: Als im Sommer vier Männern die Flucht aus einer geschlossenen Einrichtung in Niederbayern gelang, dauerte es nur wenige Wochen, bis alle gefasst waren – zwei in Österrreich und zwei in der Türkei.

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