Das Amerika zweiter Klasse

von Redaktion

Menschen in Michigan demonstrieren für einen existenzsichernden Lohn, voll finanzierte öffentliche Bildung und saubere Luft und Wasser. © picture alliance

Flint LeeAnne Walters hat die Probe, mit der damals alles anfing, noch immer zu Hause. Sie führt in ihre Küche in Flint im US-Bundesstaat Michigan, wo sie erstmals bemerkt hatte, dass etwas mit dem Trinkwasser in ihrer Heimatstadt nicht stimmt. Zehn Jahre ist das nun her. „Wir hatten die Kinder ins Bett gebracht“, erinnert sich Walters daran, wie sie und ihr Ehemann die Küche nach dem Abendessen sauber machten. „Wir räumten die Spülmaschine ein — und plötzlich kam einfach nur braunes Wasser aus dem Hahn.“

In den folgenden Monaten bemerkte sie Haarausfall und Hautausschlag bei ihren Kindern. Walters sammelte unzählige Proben des verbleiten Trinkwassers und deckte damit eines der größten politischen Versagen in der jüngeren Geschichte der USA auf. Der Skandal verlieh Flint Berühmtheit und machte es zum Symbol eines Amerikas zweiter Klasse.

Die Wasserkrise in der Stadt malte das traurige Bild der USA abseits von Wolkenkratzern, Kulturindustrie und wissenschaftlicher Exzellenz. Einem Amerika, in dem Menschen selbst grundlegende Bedürfnisse verwehrt werden können. Für viele Millionen Bürger funktionieren die Vereinigten Staaten nicht. Umso mehr scheinen sie gewillt, auch im Swing State Michigan mit dem System zu brechen. Für viele bedeutet das: Donald Trump wählen.

Bis zu den 1980er Jahren war Flint ein blühendes Zentrum der Automobilindustrie, insbesondere wegen der Marke General Motors und der Nähe zur Autostadt Detroit. Doch dann wanderte die Industrie ab, Tausende verloren ihre Arbeitsplätze und verließen die Stadt.

Mit dem Niedergang sanken auch die Steuereinnahmen. Eine der Sparmaßnahmen beinhaltete 2014 die Umstellung der Wasserversorgung auf eine günstigere Alternative: den lokalen Flint River. Sein Wasser war korrosiv, doch Maßnahmen, um die Rohre zu schützen, gab es nicht. So wurde Blei aus alten Leitungen freigesetzt. Die Menschen in Flint tranken es, kochten und duschten damit — monatelang, ohne zu wissen, dass ihr Wasser gefährlich kontaminiert war.

Es dauerte eine Weile, bis die Verantwortlichen aus beiden großen Parteien in der Stadtregierung und im Bundesstaat zugaben, dass es überhaupt ein Problem gab. Statt sofort zu handeln, beschwichtigten sie die Bevölkerung und sagten, das Wasser sei sicher. Walters sagt heute, dass das Vertrauen der Menschen in Flint in die Politik dauerhaft erschüttert sei.

Die Wahlergebnisse der vergangenen zwanzig Jahre zeigen, wie sich die Wähler in Flint und Umgebung von den Demokraten abgewandt haben. Im Wahlbezirk Genesee stimmten 2012 etwa 28 Prozent mehr Menschen für die Demokraten als für die Republikaner. Nach der Wasserkrise und mit dem Erscheinen von Trump auf der politischen Bühne änderte sich das: Im Bezirk lag der Republikaner 2016 nur gut zehn Prozent hinter Hillary Clinton. 2020 lag Trump nur noch gut neun Prozent hinter dem späteren Präsidenten Joe Biden.

Experten erklären das mit Trumps großer Wirkmacht auf diejenigen, die vom Reichtum der USA am wenigsten profitieren. Statistiken zeigen, dass das Einkommen weißer Männer ohne Universitätsabschluss in den USA von 1980 bis heute von damals deutlich über dem Schnitt auf mittlerweile klar darunter gesunken ist.

Es sind jene, die im 78-jährigen Trump einen Anti-System-Kandidaten sehen, der die Dinge am ehesten ändern könnte. Seit 1988 waren die Demokraten bei Präsidentschaftswahlen in Michigan ungeschlagen —bis zum Sensationssieg von Trump 2016.

Die Demokratin Kamala Harris muss Michigan zusammen mit den zwei anderen Swing States des Mittleren Westens, Pennsylvania und Wisconsin, aber gewinnen, um eine Chance aufs Weiße Haus zu haben. Nur wenige Tage vor der Wahl zeigen die Prognosen die beiden Kontrahenten praktisch gleichauf.

Artikel 1 von 11