KOLUMNE ZUR US-WAHL

„Wollen wir die kollektive Reise aufgeben?“

von Redaktion

Während Amerikaner, die wie ich von der Aussicht auf eine zweite Trump-Regierung entsetzt sind, in die Geschichte zurückblicken und Donald Trump sowie den „Trumpismus“ mit Adolf Hitler und der Nazi-Ideologie in Verbindung bringen, bin ich eher geneigt, Parallelen zu den populistischen Bewegungen zu ziehen, die die niederländische, französische, deutsche, polnische, ungarische, italienische und slowakische Politik umwälzen. Trump ist nicht Hitler, aber wie Hitler hat auch Trump das ungenutzte politische Potenzial einer unruhigen Öffentlichkeit erkannt.

Der Mann aus Mar-a-Lago stellt die Wahl als eine Entscheidung zwischen konservativen amerikanischen Werten und einer, wie er es nennt, „linksradikalen Agenda“ dar. Doch wie seine europäischen politischen Verbündeten ist auch Trump kein Konservativer. Es ist nichts Konservatives daran, die Institutionen, die den Staat und die Zivilgesellschaft stützen, zu zerstören.

Aber wie seine populistischen Mitstreiter in Europa hat Trump systematisch daran gearbeitet, das Vertrauen der Öffentlichkeit in Wahlen, die freie Presse, eine unabhängige Justiz, das Bildungssystem und sogar öffentliche Bibliotheken zu untergraben. Damit setzt er sich über die seit Langem bestehende verfassungsmäßige Ordnung hinweg und behauptet, er allein sei die Rettung. Nicht der demokratische Prozess, nicht der Unternehmergeist der amerikanischen Wirtschaft, nicht die Weltklasse-Forscher und Think Tanks – sondern er. Und in einer Weise, die man nur als Blasphemie bezeichnen kann, behauptet er nun, er sei ein Vertreter der göttlichen Vorsehung.

Misstrauisch gegenüber der modernen amerikanischen Kultur verspricht Trumps „Make America Great Again“-Bewegung (MAGA) eine Rückkehr zu einer mythischen Vergangenheit, in der das Leben einfacher war. Doch lautet die naheliegende Frage: Einfacher und bequemer für wen? Die Antwort wird klar, wenn wir die vielen absurden Ironien der Bewegung betrachten. Während viele Männer auf den Trump-Kundgebungen T-Shirts tragen, auf denen ein abfälliger Begriff über einem Bild der Vizepräsidentin Kamala Harris prangt, jubelt die MAGA-Menge einem verurteilten Sexualstraftäter zu, wenn er ihnen sagt, er werde der Beschützer der amerikanischen Frauen sein. Während er behauptet, die schwarze Bevölkerung der USA zu lieben, wird auf seinen Wahlveranstaltungen „Dixieland“ gespielt – die inoffizielle Nationalhymne der abtrünnigen Konföderierten Staaten, die mit dem Versuch, die Sklaverei zu erhalten, einen Bürgerkrieg provozierten. Und in einem Land, dessen Größe das Ergebnis von Einwanderung ist, behauptet der Sohn einer schottisch-amerikanischen Mutter und Enkel deutscher Emigranten, dass Einwanderer „das Blut unseres Landes vergiften“.

Wenn man sich die US-Geschichte ansieht, erkennt man den Unterschied zwischen Amerikanern und Europäern. Die Amerikaner haben nie dafür gekämpft, bestehende Privilegien zu bewahren oder in eine mythische Vergangenheit zurückzukehren. Sie haben immer dafür gekämpft, eine Zukunft zu schaffen, die sich von der Vergangenheit als auch von der Gegenwart unterscheidet. Es geht nicht darum, woher wir kommen, sondern wohin wir gehen. Wir haben immer andere willkommen geheißen, die uns auf dieser Reise begleiten wollen.

Die Frage, ob Harris die perfekte Kandidatin für das Präsidentenamt ist, geht daher am Thema vorbei. Heute werden die Amerikaner die Frage beantworten, ob sie weiterhin Amerikaner sein wollen oder unsere kollektive Reise aufgeben, um den persönlichen Hass und die Ressentiments eines sehr unamerikanischen Mannes zu beschwichtigen.

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