Abschiedsfoto? Finanzminister Christian Lindner (r.) kam auch gestern wieder zu Krisengesprächen mit Olaf Scholz und Robert Habeck ins Kanzleramt. © Sebastian Gollnow/dpa
München – Die These, dass es diesmal wirklich eng werden könnte, ist in der Politik zum geflügelten Wort geworden. Nicht nur Donald Trump, auch der Bundesregierung wird auf diese Weise immer wieder ein baldiges Ende avisiert. Bisher zu Unrecht, doch mittlerweile scheint alles möglich. Heute Abend kommt der Koalitionsausschuss zusammen. Jeder Tag kann jetzt der letzte sein.
Und dann? So unklar die nahe Zukunft der Ampel erscheint, so konkret sind die Szenarien im Falle einer Scheidung. Möglich, wenn auch nicht sehr wahrscheinlich wäre etwa eine Minderheitsregierung. SPD und Grüne würden, angeführt von Olaf Scholz, ohne die FDP weitermachen und sich für ihre Projekte wechselnde Mehrheiten suchen. Das dürfte schwierig werden. CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann hat die SPD bereits davor gewarnt. Seine Partei wäre auch nicht zum Eintritt in die Regierung bereit: „Da ist nichts mehr zu retten mit diesen Partnern.“ Für die CDU gebe es nur ein Szenario: „Neuwahlen.“
Der Weg dahin würde über die Vertrauensfrage führen. Scholz müsste dazu im Bundestag den Antrag stellen, ihm das Vertrauen auszusprechen – mit dem Kalkül, dass eben dies nicht geschieht. In diesem Fall würde der Kanzler den Bundespräsidenten bitten, den Bundestag aufzulösen. Dazu hätte Frank-Walter Steinmeier 21 Tage Zeit. Anschließend müssten innerhalb von 60 Tagen Neuwahlen stattfinden.
Zum bisher letzten Mal gab es diesen Fall 2005. Gerhard Schröder stellte am 1. Juli die Vertrauensfrage und verlor sie wie gewünscht. Am 18. September wurde ein neuer Bundestag gewählt, doch statt seine rot-grüne Koalition zu festigen, musste Schröder der Kanzlerin Angela Merkel weichen.
Denkbar, aber ohne Erfolgsaussicht wäre auch ein konstruktives Misstrauensvotum. 1982 kam es dazu, als die FDP die sozialliberale Koalition verließ und sich Helmut Kohls CDU anschloss. Unterschied zu damals: Union und FDP hätten heute keine Mehrheit.
Das aktuelle Drei-Parteien-Bündnis ist deutlich instabiler, als es frühere Koalitionen je waren. Der jüngste Streit dreht sich um die wirtschaftspolitische Ausrichtung und den Vorstoß von FDP-Chef Christian Lindner. Der Finanzminister hat auch in anderer Hinsicht eine Schlüsselrolle inne: Er muss bis 14. November einen Haushalt vorlegen. Dieser Etat ist das letzte Vorhaben, für das Scholz in der laufenden Legislaturperiode Lindner und seine FDP zwingend braucht.
Würde kommende Woche der Haushalt stehen, könnte Scholz beim nächsten Streit theoretisch die FDP-Minister entlassen – hätte dann aber eine Minderheitsregierung, in der er politisch gelähmt wäre. Lindner wiederum hat dank seiner Haushaltshoheit ein mächtiges Instrument in der Hand. Käme es in der Koalition zu keiner Einigung, könnte er einen Not-Etat anordnen, dessen Höhe nicht überschritten werden darf. Das könnte sich der Kanzler kaum bieten lassen und müsste die FDP-Minister zuvor entlassen – was wiederum zu Vertrauensfrage und Neuwahlen führen dürfte.
„Lindner sitzt am längeren Hebel“, sagt auch der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke. „Wenn er etwas durchsetzt, was ihn und auch seine Parteifreunde befriedigt, dann bis zum 14. November.“ In dieser Zeitspanne erwartet er den Bruch am ehesten: „Stellen Sie sich mal vor, die drei Koalitionäre verabschieden noch einen Haushalt, und dann macht sich die FDP vom Acker. Das wäre ja grotesk.“ Noch allerdings sieht der Publizist („Blätter für deutsche und internationale Politik“) die Ampel in der Schwebe. Er verweist auf die jüngsten Versuche, der FDP entgegenzukommen: „Habeck mit den Intel-Milliarden, die SPD mit Bürokratieabbau. Aber damit wird sich die FDP nicht zufriedengeben. Daher wird der Verhandlungspoker noch einige Runden drehen.“
In der Union wird offen über Neuwahlen am 2. März gesprochen, wenn auch in Hamburg gewählt wird. Auszuschließen ist das längst nicht mehr. Sollte Olaf Scholz tatsächlich in naher Zukunft die Vertrauensfrage stellen, könnte es durch die zeitlichen Vorgaben (21 Tage plus 60 Tage) sogar schneller gehen. Der Unionsslogan „Merz im März“ würde von der Realität dann noch überholt.