Papierschlacht im Wahllokal: Helfer zählen Stimmen aus, hier ein Archivfoto aus Zürich. © BIERI/dpa
Berlin/München – Zumindest zwei Blatt Papier waren noch da. Auf ihnen hat Ruth Brand, die Bundeswahlleiterin, einen Brief geschrieben, über den sich nun die ganze Republik die Köpfe heiß redet. Das zweiseitige Schreiben an den Bundeskanzler fasst massive Bedenken der Behördenchefin zusammen, ob sich eine Neuwahl schon im Januar oder Februar realisieren ließe. Es sind ernsthaft klingende Sorgen dabei, ob Fristen gebrochen und kleine Parteien benachteiligt werden, wenn die Vorbereitung in die Weihnachtstage fällt. Und ein kurioser Passus: Die „Beschaffung von Papier“ für die Wahlzettel sei erschwert.
Brand hat sich damit übers Wochenende bundesweit bekannt gemacht. Sie löst eine Menge Zorn aus, auch Spott. Die deutsche Papierindustrie beeilt sich mitzuteilen, sie könne liefern, ohne die vom Grundgesetz vorgegebene 60-Tage-Frist zu verletzten. Aus dem Nachbarland Polen gibt es Hilfsangebote. Und einzelne Bürger veröffentlichen Fotos, wie sie als milde Gabe einen Stapel Papier an Brand schicken. Vor allem die Union grollt, will Brand vor den Bundestag vorladen. „Das Grundgesetz ist von 1949 und sieht seitdem diese 60 Tage zur Vorbereitung einer Neuwahl vor“, sagt Bayerns Staatskanzleiminister Florian Herrmann (CSU). „Im Jahr 2024 rumzujammern wegen Papier und Druckereien ist nicht nur peinlich, es ist eine Schande.“ Sein Rat an Brand: „Heult leise und macht eure Arbeit!“ Freie-Wähler-Chef Hubert Aiwanger spottet über die Ampel-Bürokratie: „Wenn Sozialisten die Wüste regieren, wird der Sand knapp.“
Dahinter steckt aufseiten von Union und FDP der Verdacht, dass sich Brand, die der Bundesregierung untersteht, instrumentalisieren ließ von der Kanzlerpartei SPD, die keine schnellen Neuwahlen will. Indiz: Noch am Vortag hatte die Bundeswahlleitung verkündet, eine vorgezogene Neuwahl sei kein Problem. Dann plötzlich, als Scholz unter Druck kommt, früher die Vertrauensfrage zu stellen, folgt Brands Brief mit einer komplett anderen Botschaft. „Parteipolitische Spielchen mit Behördenleitern“ wittern Merz-Vertraute in der CDU. „Das stinkt“, heißt es auch aus der FDP.
Der Blick auf die Fakten legt nahe: Sportlich wird eine vorgezogene Neuwahl so oder so, aber nicht wegen des Papiers. Die Fristen: Der Kanzler kündigt eine Vertrauensfrage an, sie wird wohl zwei Tage später im Bundestag beantwortet. Dann hat der Bundespräsident 21 Tage, über die Auflösung des Bundestags zu entscheiden, was er wahrscheinlich ausnutzen und dann bejahen würde. Bis zu 60 Tage später wird dann gewählt. Sollte Scholz, wie von der Union gefordert, im November oder Dezember schon (statt wie von ihm angekündigt am 15. Januar) die Vertrauensfrage stellen, fällt eine heikle Phase in die Weihnachtszeit: In der Zwischenzeit müssen die Parteien ja ihre Kandidaten, soweit noch nicht geschehen, nominieren (mit Ladungsfristen), ihre Listen spätestens am 69. Tag vor der Wahl einreichen und prüfen lassen. Kleine Parteien müssten auch noch Unterstützer-Unterschriften sammeln. Gleichzeitig beginnt Wochen vor dem Wahltermin ja bereits die Briefwahl.
„Ich sehe eine hohe Gefahr, dass der Grundpfeiler der Demokratie und das Vertrauen in die Integrität der Wahl verletzt werden könnten“, fasst der Brand-Brief zusammen. Was nicht darin steht: All diese Fristen können vom Innenministerium verkürzt werden, sagt das Bundeswahlgesetz, Paragraf 52 (1). Zudem gibt es einige Beispiele, wie Wahlen doch recht schnell klappten, beginnend bei der Ausrufung der Republik am 9. November 1918 (Wahlen: 19. Januar 1919). Auch 1982 bei Kohl und 2005 bei Schröder vergingen von der Entscheidung zur Vertrauensfrage bis zum Wahltermin 79 Tage; allerdings gab es da einen längeren Vorlauf vor der Vertrauensfrage. Nicht direkt vergleichbar: Frankreich bewältigt Neuwahlen in vier Wochen.
Brand will sich nun heute Mittag mit den Landeswahlleitern zu Beratungen über den Umgang mit Neuwahlen virtuell zusammenschalten. Was die von ihr angeführte Belastung der Wahlbehörden betrifft, gibt es aus der Schweiz einen bitterbösen Rat. Die „Neue Zürcher Zeitung“ schreibt: „Wenn es hart auf hart kommt, muss sogar abends gearbeitet werden. Und am Sonntag. Da muss Deutschland durch.“