Die sechs ATACMS-Raketen sollen in ein Waffenlager in der Stadt Karatschew getroffen haben.
Hoffen, bald wieder Licht zu sehen: Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj (r.) zeichnet Soldaten in der Frontstadt Pokrowsk aus, dem Schauplatz der schwersten Kämpfe mit den russischen Truppen in der Region Donezk. © Uncredited/dpa
Moskau/Kiew – Die Zeit der ukrainischen Defensive scheint vorbei zu sein. Am Dienstag hat die Armee zum ersten Mal überhaupt russisches Staatsgebiet mit weitreichenden Waffen aus US-Produktion beschossen. Sechs ATACMS-Raketen sollen dabei zum Einsatz gekommen sein – ukrainische und US-amerikanische Regierungsvertreter bestätigten das gegenüber US-Medien. Ziel war demnach eine Militäreinrichtung in der südwestlichen Grenzregion Brjansk.
Exakt 1000 Tage nach Beginn des russischen Angriffs macht Kiew damit Ernst – schneller als gedacht: Erst am Sonntag war durchgesickert, dass US-Präsident Joe Biden dem angegriffenen Land den ATACMS-Einsatz gestattet. Washington hatte zuvor lange gezögert, um eine Eskalation des Konflikts zu vermeiden. Grund für das Umdenken soll der Einsatz tausender nordkoreanischer Soldaten auf russischer Seite gewesen sein.
Der Kreml reagierte mit drohender Rhetorik auf den Angriff. Außenminister Sergej Lawrow, der wie Bundeskanzler Olaf Scholz beim G20-Gipfel in Rio de Janeiro war, sagte, man werde eine „entsprechende“ Antwort geben. „Wir werden dies als eine neue Phase des westlichen Krieges gegen Russland betrachten und entsprechend reagieren.“ Es handle sich um ein „Zeichen“ der Ukraine und ihrer westlichen Verbündeten, dass diese eine Eskalation suchten.
Unverhohlen drohte der Minister einmal mehr mit dem Einsatz von Atomwaffen. Die westlichen Verbündeten, sagte er, sollten sich die russischen Nukleardoktrin genau durchlesen. Sie war vor Wochen erneuert worden, just gestern setzte Kreml-Chef Wladimir Putin die Änderungen in Kraft. Die neuen Regeln erlauben es Moskau, Nuklearwaffen auch als Antwort auf einen konventionellen Angriff einzusetzen, wenn er von einer anderen Atommacht unterstützt wird. Das zielt klar auf die USA.
Der Kreml bemühte sich zudem darum, den gestrigen Angriff herunterzuspielen. Fünf der sechs ATACMS-Raketen seien abgeschossen worden, hieß es in einer Mitteilung des Verteidigungsministeriums, die sechste sei beschädigt worden. Ihre Trümmer seien auf ein Militärgelände im Gebiet Brjansk gefallen. „Es gibt keine Opfer oder Zerstörungen“, hieß es. Überprüfen ließ sich das allerdings nicht. Glaubt man ukrainischen Quellen, dann stellt sich die Sache etwas anders dar.
Auf Facebook berichtete der Generalstab in Kiew von einem nächtlichen Angriff auf ein russisches Munitionslager nahe der Stadt Karatschew, die 115 Kilometer von der ukrainischen Grenze entfernt liegt. Man habe zwölf Folgeexplosionen dort gelagerter Munition beobachtet. Kiewer Medien berichteten unter Berufung auf nicht genannte Militärs, dass bei dem Angriff auch ATACMS-Raketen eingesetzt worden seien.
Wie Andrii Kovalenko, ein Mitglied des Nationalen Sicherheitsrats der Ukraine, der „Washington Post“ sagte, wurden in dem Depot Gleitbomben, Flugabwehrraketen und Artilleriemunition gelagert. Von hier aus seien russische Operationen in der Region Kursk, aber auch in den ukrainischen Grenzregionen Charkiw und Sumy versorgt worden.
Eigentlich sind die ATACMS-Raketen US-Medien zufolge dafür gedacht, die ukrainischen Truppen in der russischen Region Kursk zu unterstützen. Dass sie nun offenbar außerhalb davon zum Einsatz kamen, ist zumindest erwähnenswert.
Die US-Raketen haben eine Reichweite von 300 Kilometern, können also Ziele auch weit hinter der russischen Grenze treffen. Sie sollen es der Ukraine möglich machen, russische Lager und Militärposten aus großer Distanz zu zerstören. Präsident Wolodymyr Selenskyj hatte bereits seit Langem um die Erlaubnis gebeten, diese Raketen einsetzen zu dürfen.
MIT DPA/AFP