Behörden kannten Taleb A. seit Jahren

von Redaktion

Steinmeier zeichnete seine Weihnachtsansprache ein zweites Mal auf. © AFP

Die tödliche Amokfahrt: Eine mobile Sperre hätte Taleb A. die Zufahrt verhindern müssen. Doch sie fehlte.

Taleb A. war seit Jahren auf dem Radar der Behörden. © AFP

Blumenmeer der Trauer: Fünf Menschen haben bei der Amokfahrt ihr Leben verloren. © AFP

München – Man hat auch ihn selbst gewarnt. Mehrfach. Der Mann, der am Freitag mit einem BMW X3 durch den Magdeburger Weihnachtsmarkt raste, ist schon seit Jahren auf dem Radar von Behörden. Zuletzt hatte die Polizei Taleb A. im August vergangenen Jahres kontaktiert. Es handelte sich um eine schriftliche Gefährderansprache – ein solches Schreiben erhalten Menschen, die noch nicht straffällig geworden sind, aber potenziell gefährlich werden könnten. Es war nur einer von etlichen Hinweisen, darauf, dass der 50-Jährige irgendwann einen Anschlag verüben könnte.

In dem Brief, der dem MDR vorliegt, zitiert die Polizei eine Drohung von Taleb A. an die Kölner Staatsanwaltschaft. „Daher habe ich kein schlechtes Gewissen für die Ereignisse, die in den nächsten Tagen passieren werden“, hieß es in einer E-Mail, die der Arzt an die Behörde verschickt hatte. Die Beamten werteten das als abstrakte Drohung und forderten ihn auf, solche Schreiben in Zukunft zu unterlassen – sonst erwarteten ihn rechtliche Konsequenzen. Eine persönliche Gefährderansprache konnte laut einem Polizeisprecher nicht durchgeführt werden. Weil man Taleb A. nicht antraf.

Offenbar hat man ihn nicht als gefährlich genug eingestuft. Doch drei Tage nach der Amokfahrt verdichtet sich der Verdacht, dass die deutschen Sicherheitsbehörden im Fall Taleb A. völlig versagt haben. Bereits im Jahr 2013 hatte der Arzt mit einem Terroranschlag gedroht. Damals absolvierte er in Stralsund in Mecklenburg-Vorpommern einen Teil seiner Facharzt-Ausbildung. Dabei kam es zu einem Streit mit der Landesärztekammer um die Anerkennung von Prüfungsleistungen. Taleb A. habe bei der Ärztekammer angerufen und Handlungen angedroht, die „internationale Beachtung finden“ würden, heißt es vom Innenministerium in Mecklenburg-Vorpommern. Er soll auf den islamistischen Terroranschlag beim Boston-Marathon verwiesen haben, der zu diesem Zeitpunkt gerade mal zwei Tage zurücklag: „Sowas passiert dann hier auch.“ Das Amtsgericht verurteilte ihn zu einer Geldstrafe von 90 Tagessätzen á 10 Euro. Auch damals wies man ihn in Form einer Gefährderansprache darauf hin, dass man ihn von nun an sehr viel genauer im Blick haben werde.

Doch tatsächlich haben die Sicherheitsbehörden die Warnsignale in den folgenden Jahren nicht nur übersehen – sondern auch ignoriert. Einer MDR-Recherche zufolge hat die Polizei Sachsen-Anhalt bereits im September 2023 einen Hinweis auf Taleb A. erhalten: „Bitte antworten Sie, es ist sehr dringend“, stand darin. Zuvor hatte der Mann aus Saudi-Arabien auf der Plattform X seine Follower gefragt, ob sie ihn verantwortlich machen würden, wenn er 20 Deutsche töten würde. Die Hinweisgeberin kontaktierte auch das Bundesamt für Migration und Flüchtlinge (Bamf). Keine der Behörden fühlte sich zuständig.

Auch aus Saudi-Arabien kamen Warnungen. Das Land habe die Bundesrepublik „viele Male“ vor dem Mann gewarnt, heißt es aus saudi-arabischen Regierungskreisen. Das Land habe auch seine Auslieferung beantragt – doch darauf habe Deutschland nicht reagiert.

Und dann sind da noch all die weiteren Auffälligkeiten, von denen das Umfeld des Attentäters berichtet. Taleb A. arbeitete als Facharzt für Psychiatrie und kümmerte sich um suchtkranke Straftäter – doch in der Belegschaft gab es offenbar große Zweifel an einer Qualifikation. „Er heißt bei uns Dr. Google“, zitiert der MDR einen seiner Kollegen. Vor jeder Diagnose habe er im Internet nachschauen müssen, außerdem verschrieb er wohl Medikamente, die Patienten in Lebensgefahr gebracht hätten. Auf der Plattform X präsentierte er ein halbautomatisches Gewehr, wie es Amokläufer in den USA häufig nutzen. „Da hätten bei der Polizei alle Alarmglocken angehen müssen“, sagt Rüdiger Erben (SPD), Innenpolitik-Experte im Landtag von Sachsen-Anhalt.

Der Terrorismusforscher Peter Neumann vermutet, Taleb A. ist psychisch krank. „Er hatte Wahnvorstellungen und fühlte sich verfolgt“, sagt er dem „Spiegel“. Irritierend sei auch, dass ein „militanter Islamkritiker aus Saudi-Arabien“ einen Anschlag ausführt, wie ihn sonst die Terrormiliz „Islamischer Staat“ verübt. „In Deutschland denkt man sehr stark in etablierten, starren Kategorien: Rechtsextremist, Linksextremist, Islamist“, sagt Neumann. Menschen wie Taleb A. passten da nicht gut rein. Womöglich hätten ihn die Behörden deshalb nicht als reale Gefahr betrachtet.

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