Eines der einprägsamsten Bilder dieses traurigen Kriegsjahres in Kiew: Ein Mädchen flüchtet mit einem Hund nach einem Raketenangriff. © DOLZHENKO/epa
Kardinal Marx im Gespräch mit Georg Anastasiadis und Claudia Möllers in seinem Amtssitz. © Marcus Schlaf
Ein positives Menschenbild trotz allem: Kardinal Marx blickt optimistisch aufs neue Jahr. © Schlaf
München – Weihnachten 2024 – Fest des Friedens. In 92 Ländern der Erde gibt es kriegerische Konflikte. Die Rufe nach Frieden erklingen immer eindringlicher. In den christlichen Kirchen wird zu Weihnachten die Friedensbotschaft verkündet. Wir sprachen mit dem Münchner Kardinal Reinhard Marx über Krieg und Frieden, die Rolle der Religionen. Und über Hoffnung.
Heute singen die Christen in den Kirchen „Oh, du fröhliche“. Aber können wir nach dem furchtbaren Anschlag von Magdeburg noch fröhlich Weihnachten feiern?
Diese grausame Tat ist schier zum Verzweifeln und hat so unglaublich viel Leid gebracht. Wir beten in unseren Gottesdiensten ganz besonders für alle Menschen, die davon betroffen sind. Vor allem beten wir für die Toten und alle, die um sie trauern. Und für die Verletzten und alle, die das miterleben mussten. Gerade jetzt ist es wichtig, Zeichen der Hoffnung und des Zusammenhalts zu setzen. Familien und Freunde brauchen einander, um Trost und Zuversicht zu finden. Und es ist gut und wichtig, dass wir in Gedanken bei denen sind, die leiden. Auch an Weihnachten. Aber es ist sicher ein schweres Weihnachtsfest für viele Menschen.
Die Welt scheint aus den Fugen geraten. Klingt das Wort vom Weihnachtsfrieden, den Sie verkünden werden, da nicht etwas hohl?
Weihnachten verkündet den Frieden nicht als eine Tatsache, sondern als große Hoffnung. Selbst in der dunkelsten Stunde. Der Krieg ist die schlimmste Geißel der Menschheit. Er bringt Gewalt und Tod, Zerstörung von Familien, zerrüttet die Moral und sät Hass über Generationen hinweg. Hunderttausende sind auf allen Seiten in den Kriegen in der Ukraine und in Israel und Gaza bereits gestorben oder verwundet worden. Deswegen ist es so wichtig, dass es Hoffnungsträger gibt. Wir brauchen starke Kräfte, um zu sagen: Der Krieg ist nicht das Ende, er wird nicht das letzte Wort behalten. Hoffnung bedeutet: Ich finde mich nicht ab mit der Welt, wie sie ist, ich glaube, da ist mehr möglich! Wie wollten wir ohne eine solche Hoffnung leben? Wir würden den Kriegstreibern Recht geben.
Kann es auf dem Weg zur Überwindung des Kriegs richtig sein, Waffen zu liefern?
Wir sprechen von einem brutalen Angriffskrieg Russlands gegen die Ukraine. Eine Verteidigung mit Waffen ist erlaubt, erst recht, wenn es um die Verteidigung wehrloser Menschen geht. Aber gibt es einen gerechten Krieg? Wohl kaum. Ein Krieg führt immer auf allen Seiten zu Schuld, er hat verheerende Folgen und ruft schlimmste Dinge hervor. Mein Vater hat nicht viel vom Krieg erzählt. Aber er sagte mir: „Eines kannst Du glauben: Der Krieg zerstört jede Moral.“
Auch in Deutschland haben viele Menschen Angst vor einem Krieg. Zum Teil schürt auch die Politik die Ängste. Wir haben einen „Friedens-Kanzler“ Scholz und einen angeblichen „Kriegs-Treiber“ Merz. Erfüllt Sie das mit Sorge?
Solche Begriffe sind populistische Schlagwörter. Ich hoffe, dass der Wahlkampf differenzierter geführt wird. Ich gehe davon aus, dass beide einen Waffenstillstand herbeiführen wollen. Vielleicht haben manche am Anfang zu viel vom Siegen gesprochen. Ich hatte meine Anfragen, ob die Ukraine allein, ohne dass der gesamte Westen sie auch durch Truppen unterstützt, Russland würde besiegen können. Dieser Krieg kann nur durch Verhandlungen zu einem vorläufigen Waffenstillstand und dann vielleicht in einen Frieden geführt werden. Dafür ist jetzt allerhöchste Zeit. Das kann bitter werden, denn: Da raubt einer einfach Land, begeht brutales Unrecht – und wir müssen das dennoch hinnehmen? Das ist schon jetzt kaum zu ertragende Realität.
Spüren Sie, dass die Menschen Angst haben und Frieden in der Kirche suchen?
Ich spüre in jüngster Zeit, dass sich mehr Menschen Sorgen darüber machen, was passieren würde, wenn das Christentum bei uns verschwindet. Was würde fehlen? Dazu habe ich gerade ein Buch geschrieben, das im März erscheint. Das Buch heißt „Kult“ und es geht um die Frage, warum die Zukunft des Christentums uns alle angeht. Nicht Moral ist eigentlich der entscheidende Punkt, sondern Weihnachten: Gott ist da! Gibt es eine Hoffnung oder nicht? Und ja, an Weihnachten kommen auch deswegen mehr Menschen zum Gottesdienst. Ohne Hoffnung können wir nicht leben.
Mit Blick auf den Ukraine-Krieg sehen wir, dass die orthodoxe Kirche eine ungute Rolle spielt. In Russland ist sie auf der Seite der Kriegstreiber. Betrübt Sie das sehr?
Bereits wenige Tage nach dem russischen Angriff auf die Ukraine habe ich in einer kurzen Ansprache bei der ukrainisch-katholischen Gemeinde in München den Patriarchen von Moskau, Kyrill I., inständig aufgerufen, Einfluss auf Putin zu nehmen, damit die Waffen niedergelegt werden. Aber Kyrill I. handelt gegenteilig und das habe ich immer wieder scharf kritisiert. Religionen sind zu meiner großen Enttäuschung oft keine Kräfte, die Brücken bauen, zusammenführen, mäßigen. Das betrifft auch das Heilige Land. Religionen bleiben im Narrativ ihrer jeweiligen Gruppen, schaffen es nicht, eine andere Dimension ins Politische einzubringen. Sie sind dann Teil des Problems und nicht Teil der Lösung. Das ist manchmal zum Verzweifeln.
Warum findet man da keinen Konsens unter den Religionen?
Für mich war das Weltfriedenstreffen 1986 von Papst Johannes Paul II. in Assisi mit allen Weltreligionen eine ikonische Veranstaltung. Er hat gesagt: Kein Weltfriede ohne Religionsfrieden. Man meinte: Im Kern seien alle Religionen letztlich auf Frieden ausgerichtet. Das sieht heute nicht so aus. Für die gespaltene Orthodoxie wird das im Ukraine-Krieg besonders deutlich. Und im Heiligen Land schaffen es Juden, Christen und Muslime nicht, gemeinsam Zeichen des Friedens zu setzen. Dabei müssen doch irgendwann wieder alle miteinander leben: Ukrainer und Russen, Palästinenser und Israelis.
Die Angst wird von Populisten schamlos ausgenutzt. Die Demokratie war noch nie so gefährdet, wie jetzt. Was bedroht die Stabilität unseres Landes am stärksten?
Das Misstrauen! Ein Grundvertrauen in die Institutionen ist absolut notwendig. Die Populisten machen ihre Lüge, dass die Eliten die Institutionen gegen den Willen des Volkes beherrschten, zu ihrem Wahlkampfthema. Damit stellen sie unser System radikal infrage und gefährden den Kern der Demokratie. Demokratie ist anspruchsvoll, Demokratie ist anstrengend: Da muss man sich informieren, diskutieren, Kompromisse machen, aber es braucht ein Grundvertrauen in Verfahren und Institutionen.
Da tut sich Politik gerade schwer.
Das faschistoide Schwadronieren kommt wieder auf. Vereinfacher haben Konjunktur. Der künftige Präsident Trump sagt: Hört auf mit diesen ganzen Diskussionen, ich verspreche euch das goldene Zeitalter. Da muss ich schon sagen: Das ist eine Gefahr, von der ich nicht gedacht hätte, dass sie noch einmal so plump auftaucht und so viele Anhänger findet. Die einfachsten Erzählungen von der Rettung der Welt sind wiedergekommen: We are first! Nationalismus führt zum Untergang, er taugt nicht in einer globalen Welt. Wir können nur etwas fürs Klima tun, wenn sich die ganze Weltgemeinschaft als eine Familie begreift, die einen einzigen Planeten bewohnt. Das hat Papst Franziskus in seinen Enzykliken Laudato si und Fratelli tutti betont. Herr Trump wird dieser Linie wohl nicht folgen.
Wir haben nicht nur Trump, sondern auch hierzulande die AfD. Der Umgang der Kirchen mit der AfD ist ja nicht ganz banal…
Die deutschen Bischöfe sprechen mit einer Stimme: Völkischer Nationalismus und Christentum sind unvereinbar. Viele haben gesagt: Das hätten wir der katholischen Kirche gar nicht zugetraut, dass sie so klar und eindeutig eine Grenze zieht. Christen sollten sich immer fragen, was sie zu einer guten Demokratie beitragen können. Denn diese lebt vom Engagement von Menschen, die mehr tun, als sie tun müssten. Wenn jeder nur das tut, wozu er verpflichtet ist, dann führt das noch nicht zu einer solidarischen und zukunftsstarken Demokratie.
Ist das eine Schicksalswahl hier bei uns im Februar?
Das ist mir eine Spur zu dick. Mich erfüllen eher die Folgen der kommenden US-Präsidentschaft mit Sorge. Welche Kräfte werden sich in den kommenden vier Jahren dort festsetzen, werden sie langfristige Veränderungen der Institutionen zum Schlechten erwirken?
Aber auch dort religiös eingefärbt durch die Evangelikalen…
Ich wundere mich, was man mit diesem Jesus von Nazareth alles zu machen versucht. Wenn man die Bibel aufschlägt, geht das nicht, ihn zum Verteidiger von Trump und von Nationalismus zu machen; darauf muss man erst einmal kommen. Daran merkt man, dass man dieses Phänomen Religion sehr stark benutzen kann für andere Zwecke.
Was lässt Sie trotz allem optimistisch auf das neue Jahr blicken?
Wir sind Menschen! Es gibt das wunderbare Wort von Kardinal Joseph Ratzinger: „Wenn Gott Mensch geworden ist, dann ist es gut, ein Mensch zu sein.“ Jeden Tag können wir, weil wir Hoffende sind, Dinge besser machen. Mein Grundvertrauen in den Menschen hat sich nicht verändert. Dass wir immer wieder in törichte Irrwege hineinlaufen, will ich nicht ausschließen. Aber wir sehen auch, was an Gutem möglich ist, was Menschen leisten. Das ist schon faszinierend. Und daran müssen wir an Weihnachten erinnern: an ein positives Menschenbild. Denn ein negatives Menschenbild ist mit dem Evangelium und der Weihnachtsbotschaft nicht vereinbar. Nur eines, das trotz allem voller Hoffnung ist.