Trauerkerzen brennen auf dem sonst leeren Weihnachtsmarkt in Magdeburg. © Heiko Rebsch/dpa
München/Magdeburg – Blumen, Kerzen, Kuscheltiere: Nach der Attacke auf dem Magdeburger Weihnachtsmarkt mit fünf Toten und bis zu 235 Verletzten nehmen Trauer und Anteilnahme in der Stadt kein Ende. Bürger legen auch an Weihnachten am zentralen Gedenkort an der Johanniskirche Blumen nieder, viele haben Tränen in den Augen. „Ich konnte erst nicht herkommen, weil es mich zu sehr schockiert hat“, sagt eine Rentnerin. „Aber heute wollte ich hier sein. Es ist ja Weihnachten.“ Die Stadt rückt zusammen. Das Theater Magdeburg gedenkt am zweiten Weihnachtstag mit einem Konzert der Opfer. 200 kostenfreie Karten gehen an Betroffene, Angehörige der Opfer, Rettungskräfte und Ersthelfer.
Der jetzt in Untersuchungshaft sitzende Täter Taleb A. war am Freitagabend mit einem Auto über den Weihnachtsmarkt gerast. Die Ermittlungen zur Motivation des Arztes, der aus Saudi-Arabien stammt und 2006 nach Deutschland kam, dauern an. Zuletzt hatte er sich in Sozialen Medien zunehmend wirrer und radikaler zu Wort gemeldet. Zudem zeigte sich der 50-Jährige jüngst als Fan von X-Inhaber Elon Musk und der AfD, die die gleichen Ziele wie er verfolge.
Die Politik sucht nach Lehren. Bundeskriminalamt und Bundesinnenministerium wollen nach dpa-Informationen noch im Dezember eine Fallchronologie zum Täter vorlegen: welche Behörden wann welche Hinweise zu Taleb A. hatten und wie diesen nachgegangen wurde. Behörden in mindestens sechs Bundesländern sollen mit ihm zu tun gehabt haben. Keine davon verhinderte die Tat – es gab offenkundige Fehler. Aktuelle: So stand die Lücke in der Poller-Absicherung des Marktes, in der ein Polizeiauto hätte stehen müssen, offen. Und frühere: Als unverständlich erscheint, warum der Täter trotz bereits geäußerter Drohungen und trotz Warnungen unter anderem aus Saudi-Arabien nicht im Visier der Behörden blieb.
Die Union bemüht sich um eine zurückhaltende, nicht reißerische Analyse der Defizite, so nah die Bundestagswahl auch sein mag. Laut „Spiegel“ besprach sich Kanzlerkandidat Friedrich Merz bereits am späten Freitagabend per Handy mit Markus Söder und Alexander Dobrindt, CSU. Merz besuchte den Anschlagsort am Wochenende stumm, sichtlich bewegt, hielt sich im Hintergrund. Rund um eine Sondersitzung des Bundestags-Innenausschusses in drei Tagen sollen Defizite beraten werden. Vorratsdatenspeicherung, Abschiebehaft für Gefährder und schnellere Ausweisungen dürften Thema werden. Es brauche ein „starkes Sicherheitspaket“, sagt die Unions-Innenpolitikerin Andrea Lindholz der „Rheinischen Post“. Dazu zähle die Mindestspeicherfrist für IP-Adressen, die die Union seit vielen Jahren fordere. „Aber auch Befugnisse zur automatisierten Gesichtserkennung und zum Internetabgleich von Polizeidaten, die das verfassungsrechtlich Mögliche ausschöpfen, müssen wir regeln.“
Bayerns Innenminister Joachim Herrmann (CSU) sagte unserer Zeitung gestern, man werde gewiss die Sicherheitskonzepte für Weihnachtsmärkte und Volksfeste immer wieder überprüfen, da gehe es vor allem um „wirksame Zufahrtssperren sowie Kontrollen an notwendigen Rettungswegen“. Herrmann fordert, es müsse „der Umgang mit Warnungen aus der Bevölkerung und auch aus dem Ausland überdacht werden – wer informiert wann wen worüber und wer entscheidet gegebenenfalls über Konsequenzen?“ Das laufe „alles schon viel besser als vor zehn Jahren. Aber wir müssen weitere Optimierungen überlegen“. Gleichwohl bleibe es dabei, dass hundertprozentige Sicherheit niemand garantieren könne.
Der Terror-Experte Peter Neumann rät zu Ausbau, mehr Kompetenzen und besserer Koordination der Geheimdienste. „Ich würde sagen, 80 bis 90 Prozent der verhinderten Attentate sind im ersten Moment auf einen Hinweis der ausländischen Nachrichtendienste zurückzuführen – in den meisten Fällen auf die Amerikaner“, sagte er zu „Bild“. Er warnt vor Abhängigkeiten und vor einem schiefen Bild in Deutschland. „Wir preisen unseren Datenschutz und unsere Privatsphäre-Politik, loben uns selbst als die edlen Wächter der Bürgerrechte, während die Amis die Drecksarbeit für uns machen.“ Zudem müssten sich die Sicherheitsbehörden auf neue Attentäter-Typen einstellen: Der Magdeburg-Täter passte nicht klar in die häufigsten Täterprofile (Islamist, Rechtsextremist, Linksextremist) und erinnere damit eher an den deutsch-iranischen Attentäter von München 2016.
Die FDP-Spitze rechnet mit personellen Konsequenzen beim Ex-Koalitionspartner. Parteivize Wolfgang Kubicki sagte der „Welt“, Bundesinnenministerin Nancy Faeser (SPD) müsse sich nun „sehr unangenehmen Fragen stellen. In einem Rechtsstaat gibt es für behördliche Fehler immer einen, der Verantwortung trägt.“ Kubicki: „Ich kann mir nicht vorstellen, dass ein solches Ereignis ohne persönliche Konsequenzen bleibt.“