Erste Geiseln kommen frei, Gaza strebt nach Ruhe. Ein Gespräch mit Nahost-Expertin Muriel Asseburg von der Stiftung Wissenschaft und Politik über Herausforderungen nach dem Deal zwischen Israel und Hamas.
Frau Asseburg, löst der Deal im Gazastreifen Hoffnung aus?
Ja, absolut, die Menschen haben nach der Ankündigung auf den Straßen gefeiert. Die Hoffnung ist riesig, dass die Bombardierungen endlich aufhören, dass die Leute in ihre Häuser, Ortschaften und Städte zurückkehren können, dass es wieder etwas zu essen gibt. Gleichzeitig ist aber auch die Angst groß, dass noch etwas schiefgeht, dass es doch nicht zu einem dauerhaften Waffenstillstand kommt.
Der Gazastreifen ist extrem zerbombt. Was braucht es nun?
Es braucht schnell Nahrungsmittel, Trinkwasser und Medikamente sowie Treibstoff, damit beispielsweise Krankenhäuser und Bäckereinen betrieben werden können. Wenn das nicht gelingt, werden noch mehr Leute an den Folgen des Krieges sterben. Zudem braucht es für diejenigen Unterstützung, die in den Norden des Gazastreifens zurückkehren wollen. Dabei geht es um ganz existenzielle Dinge: vorläufige Behausungen, also Zelte und Container. Und dann ist da noch eine der ganz großen Aufgaben: Der ganze Schutt und die Trümmer müssen weg. Das ist eine Mammutaufgabe und wird allein Jahre dauern.
Auch wenn es noch früh ist: Was sind die langfristigen Auswirkungen dieses Krieges?
Die langfristigen Auswirkungen hängen auch davon ab, ob die Waffenruhe trägt, ob sie zu einem Waffenstillstand wird und ob es dann zu Wiederaufbau und einer politischen Konfliktregelung kommt. Wenn das gelingt, wenn dann Palästinenserinnen und Palästinenser Entwicklungsperspektiven haben, dann könnte trotz des unendlichen Leids, das sie in den letzten 15 Monaten erfahren haben, eine positive Zukunft entstehen.
Was, wenn es nicht so kommt?
Dann wird das Leid dieses furchtbaren Krieges in beiden Gesellschaften über Generationen fortwirken. Der 7. Oktober und der Krieg in Gaza waren jeweils so ein Einschnitt – und hat die beiden Völker noch weiter auseinandergebracht. Israelische Politiker haben angedroht, eine zweite Nakba umzusetzen, und genau so ist das von vielen Palästinenserinnen und Palästinensern auch wahrgenommen worden. Sie haben den Krieg als Fortsetzung einer Politik empfunden, die auf Vertreibung und Auslöschung der Palästinenser abzielt. Im Gazastreifen war davon jede und jeder betroffen; jeder hat geliebte Menschen verloren; nahezu alle haben unter Vertreibung gelitten. Diese Erfahrungen werden – vor allem vor dem Hintergrund des kollektiven Traumas der Nakba – lange fortwirken. Sie erlauben auch Empathie für das Leiden der anderen oder Gedanken an eine Aussöhnung.
Und auf der israelischen Seite?
Da ist es spiegelbildlich. Die Gräueltaten vom 7. Oktober haben in der israelischen Bevölkerung das kollektive Trauma des Holocaust wiedererweckt und zu einer sehr harten Haltung gegenüber den Palästinensern geführt. Natürlich gibt es in beiden Gesellschaften auch Kräfte, die an Dialog festhalten und eine Friedensregelung anstreben, aber die sind in der absoluten Minderheit.
INTERVIEW: FLORIAN WEBER