Eiskaltes Inferno auf dem Haff

von Redaktion

Als es fast schon zu spät war: Die Flucht aus Ostpreußen im Jahr 1945

Zeitzeuge Egon Helfensteller mit Erinnerungen. © Leh

Ein Flüchtlingstreck beim Marsch über das sogenannte Frische Haff. © ZDF/Dt. Historisches Museum

München – Frisches Haff, die Nehrung, Pillau – nur Zeitzeugen und Historikern sind diese Orte an der Ostsee wohl noch ein Begriff. Vor 80 Jahren kam es auf dem bei minus 25 Grad zugefrorenen Seebecken (Haff), auf der Landzunge (Nehrung) und im ostpreußischen Küstenort Pillau, heute eine russische Exklave, die zu Kaliningrad (Königsberg) gehört, zu apokalyptischen Ereignissen. Das Grauen spricht aus Zeitzeugen-Erinnerungen wie diesen: „Einer Mutter waren, als sie die Mitte des Haffs erreicht hatte, bereits zwei Kinder erfroren, die sie einfach liegen lassen musste“, schrieb der Superintendent des Kreises Heiligenbeil Jahre später. „Mit den anderen beiden Kindern zog sie weiter, als sie jedoch in der Nähe der Nehrung war, waren auch diese beiden Kinder erfroren.“

Ein langer Treck zog über die Eisplatten weiter Richtung Pillau, von hinten die Rote Armee, von oben die russischen Tiefflieger. Und was die Flüchtenden am Ende ihres Weges erwartete – die Rettung auf dem Schiffsweg über die Ostsee gen Westen, oder auch nicht –, konnte niemand wissen.

Das Drama in Ostpreußen, eine der größten Evakuierungsaktionen der Geschichte, betraf eine deutsche Wohnbevölkerung von 1,75 Millionen. Etwa 500 000 blieben an Ort und Stelle. Wer konnte, flüchtete auf völlig überfüllten Eisenbahnzügen, zu Fuß oder per Schiff. Wie viele dabei starben, ist unbekannt – Schätzungen gehen von mehreren Zehntausend aus. Allein beim Untergang der von russischen U-Boot-Torpedos versenkten „Wilhelm Gustloff“ am 30. Januar 1945 starben etwa 8800 Passagiere. Auch beim Untergang etwa der „Steuben“ und „Goya“ starben Tausende.

Die Verantwortung fällt auch auf den NS-Gauleiter von Ostpreußen, Erwin Koch, der eine geordnete Räumung von Ostpreußen als Defätismus brandmarkte. Die Räumungsbefehle kamen daher erst, „als eine ordnungsgemäße und gelenkte Evakuierung längst unmöglich geworden war“, stellte eine vom Vertriebenenministerium in den 1950er Jahren eingesetzte Kommission fest. Koch, der 1986 in polnischer Haft starb, konnte mit einem für ihn reservierten Eisbrecher fliehen.

Egon Helfensteller, einer aus der Masse der 1,25 Millionen Flüchtenden, hatte Glück. Als ihn unsere Zeitung 2005 befragte, lebte der damals 75-Jährige in Neufahrn (Kreis Freising). Aufgewachsen war er jedoch im Dorf Haselberg nahe Tilsit an der Grenze zum heutigen Litauen. Die Flucht begann im nördlichen Ostpreußen gegen Ende 1944. Helfenstellers Mutter und seine drei Geschwister waren schon im Sommer 1944 Richtung Westen abtransportiert worden. Der damals 14-jährige Egon blieb allein auf dem kleinen Gehöft zurück. Drei Kühe, ein Pferd, Schweine, Hühner. „Die habe ich noch versorgt“, dann jedoch kam der Fluchtbefehl durch einen Wehrmachts-Offizier. Im Oktober 1944 wurde der Treck von Haselberg durch den Ortsbauernführer zusammengestellt. Die mehrwöchige Odyssee bis nach Allenstein geriet „zum Fiasko“, wie Helfensteller im Gespräch sagte. „Ich wundere mich selbst, wie ich das überstanden habe.“

Mit einem Leiterwagen, gezogen vom Pferd, hatte sich der 14-Jährige in den Treck eingereiht. Eiskalt war es, das Essen war Glückssache, Schweine und Hühner hatte Helfensteller schon vor Antritt der Fahrt laufen gelassen. Nur Speckseiten und ein paar Gänse, die der 14-Jährige schnell geschlachtet hatte, halfen beim Überleben. Das Inferno auf dem Haff musste Helfensteller nicht miterleben. Er war zu diesem Zeitpunkt schon ins sächsische Plauen evakuiert. „Ich habe noch Glück gehabt“, sagte er mit Blick auf das, was ab dem 23. Januar in Ostpreußen geschah. An diesem Tag erreichte die Rote Armee das küstennahe Elbing. Den Flüchtenden war somit der Weg über die Weichsel Richtung Westen abgeschnitten. Der einzige Ausweg war das zugefrorene Haff. „Alte Leute saßen und lagen sterbend oder schon erfroren auf dem Wege“, heißt es in dem Bericht des Superintendenten aus Heiligenbeil. Die Eisdecke hielt den Belastungen teilweise nicht Stand – ganze Wagenkolonnen und Viehherden versanken in der Ostsee. Auf der Nehrung verzehrten die kampierenden Menschen „zwischen Unrat und Kot“ letzte Brotrinden. Und wer das Pech hatte, auf dem Festland von der Roten Armee überrollt zu werden, der musste entweder im zerstörten Königsberg überleben (eingenommen erst am 9. April) oder sah sich Verbrechen ausgeliefert – etwa in Metgethen, wo ein Massaker an deutschen Flüchtlingen stattfand, das nach der kurzzeitigen Rückeroberung des Ortes von der NS-Propaganda ausgeschlachtet wurde.

Helfensteller hat nach dem Umbruch 1990 seine alte Heimat noch einmal aufgesucht. „Meine Schule stand noch“, erinnerte er sich, sogar mit den original Schulbänken von damals. Das elterliche Gehöft jedoch war verschwunden. Mit dem Gedanken, wieder zurückzusiedeln, hat der ehemalige Ostpreuße keine Sekunde lang gespielt. Im Jahr 2010 ist er im Alter von 80 Jahren in Neufahrn gestorben.

Transparenzhinweis: Diese Geschichte erschien erstmals 2005 und wurde hier überarbeitet.
DIRK WALTER

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