Keine Blumen von der Justiz: Ministerpräsidentin Giorgia Meloni muss sich für die Freilassung eines libyschen Milizenführers rechtfertigen. © Tarantino/dpa
Giorgia Meloni will weitermachen, als sei nichts gewesen. Doch seit Dienstag wird gegen die italienische Ministerpräsidentin ermittelt in einer Angelegenheit, die weit über den juristischen Sachverhalt hinausgeht. Meloni und drei weitere Mitglieder ihrer Regierung werden beschuldigt, einen mutmaßlichen libyschen Kriegsverbrecher und Milizenführer freigelassen und der Strafverfolgung durch den Internationalen Strafgerichtshof (IStGH) in Den Haag entzogen zu haben. Die römische Staatsanwaltschaft, die im Zuge einer Anzeige aktiv wurde, leitete den Fall an das für Minister zuständige Gericht weiter, das nun drei Monate Zeit hat, um über einen Antrag zur Aufhebung der Immunität Melonis im Parlament zu entscheiden.
Neben der Premierministerin wird auch gegen Justizminister Carlo Nordio, Innenminister Matteo Piantedosi sowie Staatssekretär Alfredo Mantovano ermittelt. Alle drei waren an der Freilassung von Osama Elmasry Najeem vergangene Woche beteiligt. Elmasry war Tage zuvor in Turin von der italienischen Antiterrorpolizei festgenommen, aber nur zwei Tage später freigelassen und mit einem Flugzeug des Geheimdienstes nach Libyen abgeschoben worden. Laut IStGH hat Elmasry sich dort seit 2015 als Leiter des berüchtigten Mitiga-Gefängnisses des Mordes, der Folter und der Vergewaltigung in zahlreichen Fällen schuldig gemacht. Gegen ihn wird in Den Haag wegen Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit ermittelt.
Kritiker vermuten, die Regierung habe den Brigadegeneral aus Furcht vor Repressalien nach Libyen abgeschoben. Der Chef der libyschen Justizpolizei gilt als eine der Figuren, die die illegale Migration von Libyen nach Italien steuern können. „Ich bin nicht erpressbar und lasse mich nicht einschüchtern“, sagte die Ministerpräsidentin. Ob sie sich dabei auf die Ermittlungen gegen sie oder den Fall Elmasry bezog, war nicht eindeutig. Die ihr vorgeworfenen Straftatbestände sind Begünstigung und Amtsunterschlagung. Sie werde von denen abgelehnt, „die nicht wollen, dass Italien sich verändert und besser wird“, behauptete Meloni in Bezug auf die Justiz. Sie werde ihren Weg „erhobenen Hauptes und ohne Angst“ weitergehen.
Es steht die Frage im Raum, ob Elmasry freigelassen wurde, um Italiens Interessen in Libyen nicht zu gefährden. Die islamistische Rada-Miliz, der Elmasry angehört, bestimmt mit, ob und wie viele Boote mit Migranten sich aus Nordafrika über das Mittelmeer in Richtung Italien und EU bewegen. In der vergangenen Woche, just in den Tagen der Verhaftung Elmasrys, nahmen jene Überfahrten drastisch zu. Elmasry sei eine jener Figuren in Libyen, „die imstande sind, Italien und Europa zu erpressen“, schrieb der italienische Journalist und Libyen-Spezialist Nello Scavo in seinem 2023 erschienenen Buch „Libyagate“. Das nordafrikanische Land ist der Schlüsselstaat für die Begrenzung der Migration nach Italien.
Seit 2017 besteht ein entsprechendes Abkommen zwischen Tripolis und Rom, das auch unter Ministerpräsidentin Giorgia Meloni verlängert wurde. Italien stattet die „libysche Küstenwache“ militärisch und finanziell aus, sie soll die Abfahrten stoppen. Laut UN handelt es sich dabei um ein Agglomerat von mindestens vier unter Kontrolle verschiedener Clans stehender Einheiten.
Die Kontrolle der Migration gilt als Grundstein des bisherigen Erfolges der anfangs umstrittenen Regierungschefin. Meloni rühmte sich erst Anfang des Monats, die Zuwanderung nach Italien im Vergleich zu 2023 um über 60 Prozent reduziert zu haben. Der Stopp der Migranten außerhalb der EU-Grenzen, von der nicht zuletzt die Bundesrepublik profitiert, ist dabei essenziell.
Der Internationale Strafgerichtshof, dessen Gründungsmitglied Italien ist, protestierte nach der Freilassung und mahnte die Pflicht aller Staaten an, „uneingeschränkt zu kooperieren“. Italiens Richterverband ANM, das höchste Selbstverwaltungsorgan der Justiz, beschuldigte Justizminister Carlo Nordio, seine Zustimmung zur Auslieferung an den IStGH nicht gegeben zu haben. Die Freilassung sei politisch motiviert gewesen.