Die Bundestagsdebatte sprengt alle Terminpläne – auch unsere. Kanzler Olaf Scholz hat die geplante Leser-Diskussion in München Stunde um Stunde verschoben, dann abgesagt, weil er nicht aus Berlin wegkam. Mit unseren Lesern debattierten dann (v. r.) Verleger Dirk Ippen, Sebastian Arbinger, Georg Anastasiadis und Markus Knall. © Marcus Schlaf
München – Als Friedrich Merz wieder in seinem Stuhl versinkt, stehen die Unions-Abgeordneten hinter ihm auf und applaudieren. Vielleicht nicht überschwänglich, aber länger und lauter, als man es aus dem Parlament kennt. Sie wollen zeigen, dass sie hinter ihrem Chef stehen, der in den letzten Tagen so viel Kritik hat einstecken müssen. Merz aber sitzt da, schaut nachdenklich und man weiß nicht so recht, ob er genießt oder sich fragt: Was habe ich da bloß angerichtet?
Im Nachhinein wirkt der Moment fast prophetisch. Der Unions-Fraktionschef hat alles auf eine Karte gesetzt und sich verzockt. Stunden später wird der Bundestag das Migrationsgesetz der Union mit knapper Mehrheit ablehnen. Am Ende des Tages steht der Kanzlerkandidat ohne eine Verschärfung des Asyl-Kurses da. Aber auch als einer, der bereit war, sich mit den Stimmen der in Teilen rechtsextremen AfD eine Mehrheit zu verschaffen.
Es wäre das zweite Mal in dieser Woche gewesen. Schon am Mittwoch stimmte die AfD (zusammen mit FDP und fraktionslosen Abgeordneten) für einen Asyl-Antrag von CDU und CSU. Das Land ist seither aufgewühlt, Tausende demonstrierten gegen das Vorgehen der Union. Deren Vertreter wiederum berichten von viel Zuspruch, nicht für das Hinnehmen der AfD-Stimmen, sondern für den Asyl-Kurs an sich.
Der Freitag beginnt schon chaotisch. Die Debatte über das „Zustrombegrenzungsgesetz“ ist für 10.30 Uhr angesetzt, wird aber auf Antrag der Union verschoben. Auslöser ist wohl der FDP-Vorschlag, die Abstimmung um Tage zu verschieben, um nach Mehrheiten ohne die AfD zu suchen. Die Fraktionschefs von SPD, Grünen und FDP setzen sich mit Merz zusammen, in verschiedenen Konstellationen, immer wieder. Fast vier Stunden lang geht das so, bis die Union beschließt, die Sache durchzuziehen. Auch zum Preis eines Tabubruchs.
Entsprechend hart ist die Debatte, die folgt. Um das Gesetz selbst geht es kaum, oft wird es persönlich. SPD-Fraktionschef Rolf Mützenich nennt den Gesetzentwurf „untauglich“ und fordert von Merz eine Entschuldigung für das gemeinsame Votum mit der AfD am Mittwoch. „Der Sündenfall wird Sie für immer begleiten“, sagt er. „Aber das Tor zur Hölle können wir gemeinsam schließen.“
Da wird es laut im Saal, nicht zum letzten Mal. Merz selbst antwortet auf Mützenich, erst ruhig, dann zunehmend entrüstet. Viele seien um die Sicherheit in diesem Land besorgt, sagt er. „Diese Menschen erwarten zu Recht von uns Entscheidungen.“ Den Abgeordneten von SPD und Grünen wirft er vor, selbst kleine Schritte nach vorne zu blockieren. „Ist das Ihr Ernst, dass wir heute darüber in der Mitte des Deutschen Bundestages nicht entscheiden können? Das kann nicht Ihr Ernst sein.“ Bisweilen schlägt er über die Stränge, spricht von „täglich stattfindenden Gruppenvergewaltigungen“ durch Asylbewerber. Das ist nah am Sound jener Partei, von der er sich am Ende ausdrücklich abgrenzt.
Selten war der Riss zwischen den Parteien der Mitte größer. Die AfD kann ihr Wahlkampf-Glück kaum fassen und schaut am Freitag amüsiert zu. Fraktionsgeschäftsführer Bernd Baumann, der Mitte der Woche von einer „neuen Epoche“ sprach, wirft der Union in seiner Rede vor, bei Asyl zu wanken, und nennt die Gespräche mit SPD und Grünen „erbärmlich“. Die Stärke der AfD, prophezeit er dann, werde nach der Wahl „noch viel größer“.
Am Ende stimmen die Rechtspopulisten dem Gesetz wie angekündigt zu. Merz scheitert auch an den Abweichlern in der FDP und der eigenen Partei, darunter Ex-Ost-Beauftragter Marco Wanderwitz, Außenpolitiker Roderich Kiesewetter – und Helge Braun, früher Kanzleramtschef unter Angela Merkel. Die hatte sich am Donnerstag knapp aber heftig zu Wort gemeldet und den Merz-Kurs als „falsch“ bezeichnet. Das war auch eine Botschaft an die alte Merkel-CDU: Macht da nicht mit. Einige wenige folgten dem.
Nun stellen sich Fragen, vor allem mit Blick auf die Zeit nach der Wahl am 23. Februar. Für Sozialdemokraten und Grüne dürften sich nach dieser Woche neue Hürden für eine mögliche Koalition aufgebaut haben. Die Debatte habe „die großen Risse“ zwischen den demokratischen Parteien zutage treten lassen, sagt Grünen-Fraktionschefin Britta Haßelmann am Freitagabend. AfD-Chefin Alice Weidel unkt, Merz steuere das Land auf eine „Regierungsunfähigkeit“ zu.
Der Kanzlerkandidat selbst versucht es nach der Abstimmung mit Optimismus. „Ich bin mir ganz sicher, dass wir nach der Bundestagswahl mit den demokratischen Parteien der politischen Mitte in diesem Land, in diesem Hause, hier vernünftige Gespräche führen können“, sagt er. Im Übrigen sei er mit sich „persönlich sehr im Reinen“, die Union gehe „wirklich gestärkt“ aus diesem Tag. Es klang, nach allem, was war, mehr nach Wunsch als nach Wahrheit.