KOMMENTARE

Corona und das Virus der Zwietracht

von Redaktion

Fünf Jahre nach dem Ausbruch

Die großen Dinge sieht man nur aus der Distanz klar. Nur mit Überblick lässt sich sagen, was man eigentlich vor (oder hinter) sich hat. Wie man am besten damit umgeht (oder umgegangen wäre). Solche Gedanken sind angebracht in diesen Tagen: Weil wir einen Ausguck erreicht haben, der uns einen unverstellten Blick auf das ermöglicht, was lang nur bedrohlich und chaotisch war. Einen Blick auf Corona.

Fünf Jahre ist es her, dass die Pandemie begann – und eine Welle des Schreckens über uns hinwegrollte. Im Nachgang muss man feststellen: Wir waren nicht vorbereitet. Und weil uns der klare Blick fehlte, haben wir nicht den richtigen Umgang damit gefunden. Wir waren mittendrin und ohnmächtig, wie im Treibsand.

Die Zeit war zwar meist vom Gefühl getragen, dass die Verantwortlichen die besten Absichten hatten – trotzdem sind wir zu oft in furchtbare Fallen geraten. Was zum Beispiel mit dem Gedanken begann, uns alle zu schützen, führte dazu, dass wir alte Menschen allein im Heim haben sterben lassen. Das war unmenschlich und hat das sehr deutsche Gefühl verfestigt, dass uns Paragrafen wichtiger sind als Herzen. Was auf der anderen Seite mit dem Gedanken begann, die Meinungsfreiheit zu wahren, führte zu bösartigen Konfrontationen und blankem Hass. Während sich Corona in unseren Körpern ausbreitete, nistete sich in unseren Seelen das Virus der Zwietracht ein.

Im Nachgang bleibt die Einsicht, dass Gesundheitsminister Karl Lauterbach der Bevölkerung zu viel zumutete, als er phasenweise vorsichtiger als die vorsichtigsten Wissenschaftler war. Ministerpräsident Markus Söder wechselte zwischen dem Team Vorsicht, dem Team Augenmaß und dem Team Freiheit hin und her – in einer Frequenz, die alles Mögliche vermittelte, bloß nicht Ruhe und Besonnenheit. Der Rahmen der Politik: meist unsicher, gleichzeitig oft überzogen. Das führte zu absurden Auswüchsen bis hin zur Einschätzung der Polizei, die ein Parkbank-Verbot sogar für Single-Spaziergänger durchsetzen wollte. Auch die Schulschließungen epischen Ausmaßes waren sicher verfehlt: Wieder waren Verordnungen wichtiger als Menschen.

Der Blick in den Rückspiegel zeigt, dass wir Stärke hätten gewinnen und Leid hätten verhindern können, wenn wir uns auf die klassischen Werte besonnen hätten. Auf die Nächstenliebe des Christentums und „das Gute“ der alten Griechen. Bei jeder einzelnen Entscheidung hätte das Wohl der Betroffenen heilig sein müssen. Die Politik hätte mehr hinhören und weniger verfügen müssen. Vor allem aber hätten wir alle uns nicht so auseinandertreiben lassen dürfen. Eine Gesellschaft, in der Lockdown-Befürworter und Lockdown-Gegner sich nur noch anschreien, kommt nicht nach vorn.

Die Nächstenliebe, das Gute: Sie fordern, dass man Respekt hat vor anderen. Wenn uns also jemals wieder eine fürchterliche Herausforderung wie Corona begegnen sollte, und wenn wir‘s besser machen wollen als beim letzten Mal: Dann müssen wir echten Respekt walten lassen, gerade in der größten Krise. Das gilt für Politiker im Hinblick auf Bürger – und es gilt für uns alle untereinander. Das während der Pandemie so strapazierte Wort „Krise“ bedeutet dem Ursprung nach einfach nur „Entscheidung“. Und die Entscheidung über Nächstenliebe und Menschlichkeit liegt bei uns allen, Tag für Tag.
ULRICH.HEICHELE@OVB.NET

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