Kühnerts bewegender Abschied

von Redaktion

Sekunden des Durchatmens: Für Kevin Kühnert geht eine politische Ära zu Ende. Das letzte Mal im Bundestag wird er von Abgeordneten beklatscht. © Kappeler/dpa

Berlin/München – Es ist eine feste Umarmung, fast brüderlich. Eine Geste, mit der Lars Klingbeil noch einmal ganz offiziell seinen ehemaligen Generalsekretär Kevin Kühnert verabschiedet. Um ihn scharen sich Abgeordnete von seiner SPD, aber auch den Grünen, sie klatschen, schütteln ihm die Hand, nehmen ihn in den Arm. Der Moment, so öffentlich er ist, wirkt gleichzeitig so intim. Er gewährt einen Einblick in die SPD, aber auch in den harten Politikbetrieb.

Nachdem Kevin Kühnert vergangenen Oktober seinen kompletten Rückzug erklärte, ist er von der politischen Bildfläche verschwunden. Ihm fehle die Energie, er sei nicht gesund, teilte der 35-Jährige nur schriftlich mit. Jetzt ist das erste Mal wieder öffentlich aufgetreten – für ein letztes Mal.

Kurzfristig hatte sich Kühnert für eine Rede zur Bundestagsdebatte über die Situation in Deutschland gemeldet. Und im allerletzten Redebeitrag an diesem Dienstagmittag, in dieser Legislatur, spricht Kühnert „grundsätzlich“, weil er kein Teil des aktuellen Wahlkampfs ist, sagt er. Und in seinen 20 Jahren als Sozialdemokrat sei ihm das Grundsätzlichste „die Verantwortung vor unserer Geschichte“. Damit ist klar: Auch Kühnert haben die Geschehnisse der vergangenen Tage rund um den verabschiedeten Unions-Migrationsantrag mit AfD-Stimmen umgetrieben.

Bevor der Berliner Noch-Bundestagsabgeordnete aber zu einem rundum Schlag gegen Friedrich Merz ausholt, stellt er klar: „Nein, Union und FDP sind keine Faschisten – auch nicht klammheimlich.“ Gleichzeitig gebe es aber eine „Stilverschiebung“, die „mir aufstößt“. Kühnert kritisiert, wie die Union mit dem Partei-Austritt von Michel Friedmann umgeht. Früher wäre bei solchen Worten und Taten des „wohl prominentesten Gesichts der jüdischen Community in Deutschland“ in der CDU „kein Stein auf dem anderen geblieben“. Heute dagegen werde „der Störenfried angestrengt ignoriert“ – auch auf mehrfache Nachfrage im vergangenen TV-Duell.

Für Kühnert ist dabei ein Muster zu erkennen: „Die Opportunität sticht die Integrität.“ Sprich, der Zweck heiligt die Mittel. Aus Verantwortung gegenüber der deutschen Geschichte gehe es aber für staatstragende Parteien darum, „gemeinsam einen bundesrepublikanischen Grundkonsens zu verteidigen“ und dafür auch manchmal „gegen die Mehrheitsmeinung argumentieren“ zu müssen.

Fast schon mit einem persönlichen Rat an Merz, beendet Kühnert seine in viereinhalb Minuten gepackte mehrseitige Rede: Ja, jeder Bundeskanzler müsse wissen, was im Volk gesprochen wird. „Ein Bundeskanzler aber, dessen Mund bloß wiedergibt, was sein Ohr zuvor gehört hat, der ist nicht mehr als eine Echo-Kammer auf zwei Beinen.“ Und an alle gerichtet ruft er: „Schützen wir das, was wir lieben, schützen wir unsere Demokratie.“

Es ist eine Abrechnung mit der Union, aber in gewisser Weise auch mit dem so oft von Umfragen getriebenen Politikbetrieb. Jene Blase, in der Kühnert vom feurigen Juso-Vorsitzenden zum anerkannten SPD-Generalsekretär aufstieg. Und der er jetzt den Rücken kehrt. Auf unbestimmte Zeit.

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