Weniger Bürgergeld, mehr Mitte

von Redaktion

Wahlforum im Pressehaus: Klingbeil (r.) stellt sich den Fragen der Leser und den Chefredakteuren (v. r.) Sebastian Arbinger, Georg Anastasiadis und Markus Knall. © Yannick Thedens (2)

Stimmungstest vor Ort: SPD-Chef Lars Klingbeil übt beim Besuch in München auch Selbstkritik.

München – Für Lars Klingbeil gibt es praktisch keine Zeit zum Durchatmen. Keinen freien Abend, um ein Buch zu lesen oder ein Spiel seines Lieblingsvereins FC Bayern München anzuschauen. Früher, als er mit Politik angefangen hat, stritt man einen ganzen Sommer lang über zehn Euro Praxisgebühren, erzählt er. Heute aber überschlagen sich die Ereignisse und die Politik eilt hinterher. Als Klingbeil etwa von dem Anschlag auf die Verdi-Demonstration in München erfährt, sitzt er gerade auf einem Podium in einer Schule. „Dann hast du das nicht mal wirklich verarbeitet, dann kommen die ersten Hinweise darauf, was J. D. Vance hier in München für eine Rede halten wird.“ Terror, Sicherheitskonferenz, Wahlkampf. Mittendrin kämpft die SPD um ihren Ruf, um ihre Bedeutung als Volkspartei.

Dafür ist Klingbeil nach München gekommen, um sich beim Wahlforum im Pressehaus Leserfragen zu stellen. Gleich zu Beginn machen die Besucher deutlich, was sie von den Entscheidungen der Sozialdemokraten halten. Auf die Publikumsfrage, ob Verteidigungsminister Boris Pistorius der bessere Kanzlerkandidat gewesen wäre, hält ein Großteil eine zuvor ausgeteilte grüne Stimmkarte in die Luft. Darauf steht in Großbuchstaben: JA.

Hat die SPD also mit Olaf Scholz, Kanzler der dauerstreitenden Ampel-Koalition, auf die falsche Personalie gesetzt? Würde sie mit Pistorius nicht mehr irgendwo zwischen 14 und 17 Prozent herumdümpeln? All das ist Theorie, denn in solchen Zeiten „stehst du solidarisch zum Bundeskanzler“ und gehst „mit ihm auch ins Rennen“, sagt Klingbeil. Die SPD setzt jetzt, nicht mal eine Woche vor der Wahl, auf die noch vielen Unentschlossenen. Aller Hoffnung zum Trotz: Wahrscheinlich bleibt für die SPD Platz drei – hinter der AfD.

Das treibt auch den Leser Hans-Gerhardt Jänicke um, der fragt: „Warum gelingt es Ihnen und Ihrer Partei nicht, die AfD politisch ins Abseits zu stellen?“ Mit Blick auf die Migrations-Abstimmung zusammen mit der AfD, sieht Klingbeil das Problem darin, dass „wir als demokratische Parteien nicht miteinander eine Lösung gefunden haben“. Er habe noch am Rednerpult der Union und FDP „die ausgestreckte Hand der Sozialdemokratie“ angeboten. Stattdessen habe er den „schlimmsten Moment, seitdem ich im Parlament bin“ erlebt. Dass die „AfD-Truppe“ da „feixend und jubelnd“ saß, habe Friedrich Merz „möglich gemacht“. Und trotzdem hat die SPD nicht von diesem Tabu-Bruch, den Protesten danach profitiert. Klingbeil wiegelt ab: Man demonstriere nicht gegen Rechts, „um in Umfragen besser zu werden“. Sondern, „weil es eine klare Haltung der Sozialdemokratie ist“.

Doch Klingbeil bleibt an diesem Montagabend nicht ohne Selbstkritik. So sei es ein Fehler gewesen, dass er nach der Krim-Annexion 2014 nicht den Rückschluss gezogen habe, „dass wir mit Russland brechen“. Trotzdem verteidigt er die Ukraine-Politik der SPD, die Rufe nach Gesprächen mit Russland, das Kanzler-Zögern bei deutschen Truppen für die Ukraine. An die Grünen gerichtet, sagt er: „Die meisten kennen die Bundeswehr doch nur, weil sie dagegen demonstriert haben.“

Ja, der Streit in der Ampel hat dazu geführt, „dass wir Vertrauen verloren haben“, resümiert Klingbeil gleichzeitig. Es ist auch „völlig klar“, dass es in der Migrations- und Sicherheitspolitik Erwartungen an die SPD gibt. Und er gesteht auch ein, „dass wir uns zu sehr auf das Bürgergeld konzentriert haben und zu wenig auf die arbeitende Mitte“. Das Bürgergeld – ein Prestigeprojekt der Sozialdemokraten – ist damit von hoher Stelle abgewatscht worden.

Wofür steht die SPD jetzt eigentlich? Was ist ihr Plan für Bildung und Pflege, will Anke Schulz wissen. Klingbeil wirbt dafür, den Eigenanteil bei der Langzeitpflege zu deckeln – auf 1000 Euro im Monat. Das wird den Staat was kosten, aber es „darf andere, die finanzielle Verantwortung tragen, nicht kaputt machen“, sagt der SPD-Chef. Bei der Bildung will die SPD auf finanzielle Unterstützung von Schulen in Problembezirken und eine bessere digitale Ausstattung setzen.

Auch auf die Frage nach der Aufarbeitung der Corona-Politik von Beatrix Meißner räumt Klingbeil ein: Es sei ein „Riesenfehler“, dass dies in der Ampel-Koalition nicht passiert ist. „Wenn wir das nicht aufarbeiten, wird es diese gesellschaftliche Versöhnung, die wir brauchen, nicht geben.“ Die neue Regierung müsse das anpacken. Die neue Regierung, in der die SPD auf Mitarbeit hofft.

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