Der Kampf um die Zauderer

von Redaktion

Die Qual der Wahl: Viele Wähler sind bis zum Schluss unentschlossen. © Weißbrod/dpa

München – Ihn scheint gerade nichts aus der Ruhe zu bringen. Gelassen lehnt Olaf Scholz immer wieder am Rednerpult. Er grinst, er schäkert. Egal, ob im Zwei-Kampf gegen Friedrich Merz oder in einer Viererrunde, in den letzten TV-Debatten so kurz vor der Wahl macht der Kanzler klar, dass er Kanzler bleiben will. Dass der rote Balken bei Umfragen einfach nicht wachsen will, dass die SPD bei jeder einzelnen Prognose hinter Union und AfD liegt, scheint bei den Genossen niemand wissen zu wollen. Dort bleibt man fest bei der Erzählung, dass sich die vielen noch unentschlossenen Wähler schon noch für ein Kreuz an der richtigen Stelle entscheiden werden.

Tatsächlich sind vor dieser Wahl wirklich noch viele Menschen unentschlossen. In einer Allensbach-Umfrage, gut eine Woche vor der Wahl, erklären 38 Prozent, dass sie noch überlegen, wen sie wählen werden. Laut dem ZDF-Politbarometer sind noch 28 Prozent unentschlossen. Und in einer neuesten Yougov-Befragung sagen 13 Prozent, dass sie ihre Entscheidung erst ganz kurz vor der Wahl fällen. Sieben Prozent sogar erst am Wahltag selbst.

Nicht nur die SPD wittert Stimmen, die noch in letzter Minute ergattert werden können. So hat die Union ihre Schlusskundgebung in München – nicht wie sonst Freitagabend – auf Samstagnachmittag terminiert. Jetzt kämpfen CSU-Chef Markus Söder und Unions-Kanzlerkandidat Friedrich Merz praktisch bis zuletzt um Wählerstimmen.

Ohnehin schon fast täglich werben die Spitzenkandidaten bereits in den unterschiedlichsten TV-Formaten für ihre Programme. Wahlarenen, Duelle, Quadrelle, Bürgerdialoge. Noch am Samstagabend lädt Pro7 zur Primetime zum sogenannten Bürger-Speed-Dating. Die Kandidaten von SPD, Grünen und AfD stellen sich dort ein allerletztes Mal den Fragen des Publikums. Wahlkampf bis zur letzten Minute: Was früher noch als Tabu galt, ist jetzt ein Angebot für die noch bis zum Schluss Unentschlossenen.

Doch lohnt sich dieser Aufwand überhaupt? Wird es noch den, für viele Parteien erhofften, großen Ruck geben? „Nein“, sagt Dirk Ziems, Gesellschaftsforscher vom Marktforschungsunternehmen concept m. Sein Unternehmen hat auf Basis von 24 Tiefeninterviews die Unentschlossenheit der Wähler untersucht. Ziems hält etwa die „Hoffnung von Olaf Scholz, es in letzter Minute noch von 16 auf 25 Prozent zu schaffen“ für unbegründet, sagt er im Gespräch mit unserer Zeitung. „Das zeigen auch die Sonntagsfragen, die wie zementiert scheinen.“

In vielen dieser Umfragen stagniert auch die FDP, bei der nur wenig Stimmen mehr über das politische Überleben entscheiden. „Das Problem der FDP ist: Durch das lange Kämpfen in der Todeszone kommt bei den Unentschiedenen das Gefühl auf, seine Stimme nicht verschenken zu wollen“, erklärt Ziems. Die Liberalen müssen jetzt also hoffen, dass die Unentschlossenen darauf vertrauen, dass ihre Stimme auch etwas bewirkt. Bei den anderen Parteien falle dagegen das taktische Wählen schwer. „Denn diesmal sind so viele Koalitionsmöglichkeiten im Spiel, dass man nicht weiß, wofür man seine Stimme einsetzt.“

Warum überhaupt sind so viele Menschen unentschlossen? Ziems‘ Marktforschungsinstitut macht praktisch einen Dreiklang von Gründen dafür verantwortlich: gesellschaftliche Verunsicherung, mangelndes Vertrauen in Parteien und Kandidaten und unklare Koalitionsperspektiven. „Die Menschen erleben eine akute Dauerkrise“, erklärt Ziems. Die Themen reichen über den Ukraine-Krieg hin zu Zukunftsaussichten des Wirtschaftsstandorts, Zölle, die Zukunft Europas. „Solche fundamentalen Sorgen gab es bei den letzten Wahlen nicht.“

Gleichzeitig setzen zumindest die Ampel-Parteien auf altbekannte Gesichter. „Die Wähler haben den Eindruck, dass sich die Gescheiterten wieder zur Wahl stellen“, sagt Ziems. „Gerade bei der SPD fragen sich viele, warum nicht Boris Pistorius aufgestellt wurde.“ Während Unions-Kanzlerkandidat Merz es nicht gelingt, „menschliche Nähe aufzubauen“.

Und trotzdem überlassen die Parteien selbst am Wahltag, am 23. Februar, nichts dem Zufall. Medien-Profis wie Markus Söder wissen: Je früher die Bilder von der eigenen Stimmabgabe geknipst sind, desto eher erreichen sie viele noch mögliche Wähler. Für Söder beginnt damit der allerletzte Wahlkampfsprint am Vormittag in der Nürnberger Thusnelda-Grund- und Mittelschule, Zimmer 109.

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