Taiwan gilt als demokratischstes Land Asiens. Der renommierte Demokratieindex des Magazins Economist listet den Inselstaat in seiner jährlichen Rangliste auf Platz zehn, noch vor Deutschland. Ein Grund für den Erfolg Taiwans: digitale Demokratie. Was hinter dem Konzept steckt und die es auch auf Deutschland anwendbar wäre, erklärt Audrey Tang, die Cyberbotschafterin des Landes, bei einem Treffen in München. Zuvor war sie Digitalministerin des asiatischen Inselstaats. Tang war weltweit die erste Transperson in einem Ministeramt.
Audrey Tang, viele Menschen in Deutschland und anderen westlichen Ländern haben das Vertrauen in die Demokratie verloren. Taiwan setzt dem das Konzept der „digitalen Demokratie“ entgegen. Was steckt dahinter?
In Taiwan nutzen wir Informations- und Kommunikationstechnologien, damit die Bürger in Austausch miteinander treten können. Sie sollen miteinander diskutieren, um zu schauen, wo es Gemeinsamkeiten gibt und wo die Differenzen liegen. Die Erkenntnisse dienen dann unseren Abgeordneten als Grundlage für ihre Entscheidungen.
Wie sieht das konkret aus?
Ich gebe Ihnen ein Beispiel. Wir haben Menschen gefragt, was für sie das drängendste Problem im Internet ist. Die Antwort war: Online-Betrug. Also haben wir von einer offiziellen Regierungsnummer aus 200.000 SMS an zufällig ausgewählte Bürgerinnen und Bürger in Taiwan geschickt und sie nach ihren Ideen gefragt. Tausende haben anschließend freiwillig an Online-Bürgerversammlungen teilgenommen und miteinander diskutiert. Mithilfe von Künstlicher Intelligenz haben wir diese Versammlungen geleitet, um herauszufinden, wo es Differenzen gibt.
Und dann?
Anschließend haben sich 450 Bürger online getroffen und gemeinsam ein Gesetz ausgearbeitet, das zum Beispiel Facebook dazu verpflichtet, Schadensersatz zu zahlen, wenn jemand Opfer eines Betrugs wird und Facebook seinen Verpflichtungen nicht nachgekommen ist, das zu verhindern. Jeder Teil dieses Prozesses, von der Kontaktaufnahme bis zu den Diskussionen, all das ist digitale Demokratie. Dabei geht es nicht darum, die Arbeit der Parlamentarier zu ersetzen. Sondern darum, sie zu ergänzen.
Und so lässt sich das Vertrauen in die Demokratie zurückgewinnen?
Auf jeden Fall. Noch im Jahr 2014 lag die Zustimmungsrate für unsere Regierung bei neun Prozent. Sechs Jahre später waren es 73 Prozent. Heute haben 90 Prozent der Menschen Vertrauen in die taiwanische Demokratie. Allein durch die diese Idee, mit den Menschen und nicht nur für die Menschen Politik zu machen, haben wir das geschafft.
Taiwan gilt als Vorreiter der digitalen Demokratie. Welche Rolle spielt dabei die Bedrohung durch China?
Eine große. Denn ein autoritäres Regime stellt für uns eine existenzielle Bedrohung dar. Wenn wir unsere interne Spaltung nicht überwinden können, sind wir ein leichtes Opfer für autoritäre Machthaber weltweit. Denn deren Erzählung lautet stets, dass Demokratien nicht liefern, sondern zu Chaos führen.