Lindner vor dem Aus

von Redaktion

Die FDP droht den Wiedereinzug zu verpassen – ihr Parteichef kündigt für diesen Fall den Rückzug aus der Politik an

Es wird ungemütlich für Christian Lindner, wenn die FDP an der Fünf-Prozent-Hürde scheitert. © Albert/dpa

München – Als um 18 Uhr die erste Prognose auf der Leinwand im Münchner Künstlerhaus erscheint, bricht in der FDP Jubel aus – aber nur bei einem. Der Mann hat offenbar nicht so genau hingeschaut, jedenfalls beklatscht er die 6,5 Prozentpunkte Verlust, die unter dem Ergebnis zu sehen sind. Nicht die angezeigten 4,9 Prozent, die die Liberalen laut dieser Vorhersage einfahren.

Es sind aufreibende Wochen gewesen für die FDP, und der Wahlabend ist die erwartete Zuspitzung. Dass ihre Nerven nicht geschont werden, ist den Vertretern schon am Nachmittag bewusst. Um 15 Uhr macht eine Nachwahlbefragung die Runde, in der die Ergebnisse auf drei Stellen hinterm Komma aufgeführt sind. Die FDP kommt auf 4,974 Prozent.

Überrascht ist da keiner, weder in München noch in Berlin. Bayerns FDP-Chef Martin Hagen weist darauf hin, man werde „Nervenstärke“ brauchen, „auch Sitzfleisch“. Die Münchner Kandidatin Susanne Seehofer sagt, ihr Mann wisse, „dass wir uns heute Abend nicht mehr sehen werden“. Beide erinnern an die Landtagswahl 2018, als die Liberalen erst um 1.15 Uhr sicher über die Fünf-Prozent-Hürde waren. Wolfgang Kubickis Erfahrungsschatz ist noch etwas größer: „Ich bin seit 54 Jahren in der FDP, ich bin das gewöhnt.“

Doch je länger der Abend dauert, desto größer wird der Abstand zur erlösenden 5. Es klingt schon wie das Eingeständnis der Niederlage, als Christian Lindner sagt, ab Montag werde „die Fahne der Freien Demokraten wieder aufgerichtet, so oder so“. Noch ein bisschen später, als auch die nächste Hochrechnung keine Trendumkehr bringt, kündigt Lindner in der „Berliner Runde“ an, dass er sich vom Parteivorsitz zurückziehen werde, wenn die FDP es nicht mehr in den Bundestag schaffe. Und nicht nur das. Es sei dann auch „völlig klar, dass ich aus der Politik ausscheiden werde“. Seine Partei müsse sich „vollständig politisch und personell erneuern“, sein Führungsanspruch sei dann erloschen.

Seit zwölf Jahren steht Lindner den Liberalen vor, er hat sie in enorme Höhen geführt, aber zuletzt rasant in die Gegenrichtung. Dazu passen Zahlen der ARD. Demnach verzeichnet die FDP nicht nur bei Steuern, Altersversorgung, Außenpolitik sinkende Kompetenzwerte – und besonders bei ihrem Herzensthema Wirtschaft –, sondern auch bei den persönlichen Werten des Chefs. Der Kandidatenfaktor sank im Laufe der Bundestagswahlen von 25 (2017) über 17 (2021) auf 14.

Schon dass die Liberalen den Abend mehrere Stunden mit Resthoffnung verbringen konnten, ist in gewisser Weise ein Fortschritt gewesen. Rund um das Aus der Ampel und die Enthüllungen um ihre Exit-Strategie („D-Day“) rauschten die Werte in den Keller, bei vielen Instituten auf vier Prozent, bei manchen tiefer. Die „Aufholjagd“, von der Martin Hagen spricht, ist zwar ein großes Wort, doch aufgrund der bescheidenen Ausgangsposition nicht ganz unangemessen.

Aber dass es ihnen gelungen wäre, nach dem Ampel-Aus Vertrauen zurückzugewinnen, kann man auch nicht sagen. Der Wahlkampf war eine Distanzierung von der Koalition, der man selbst angehörte. „Die Mehrheit unserer Wähler hat mit der Ampel gefremdelt“, sagt Kubicki.

Und nicht nur die. Angetreten war man als liberales Korrektiv zu den linkeren Partnern, aber viel mehr als ewiger Streit und ein paar Kompromisse (Cannabis-Legalisierung, Selbstbestimmungsgesetz) werden von den dreieinhalb Jahren nicht in Erinnerung bleiben. Zuletzt diente die Ökopartei nur noch als Schreckgespenst: Gelb wählen, um Grün zu verhindern. Dass Kubicki schon kurz nach Schließung der Wahllokale eine erneute Koalition mit den Grünen rigoros ausschließt, ist da nur konsequent. Aber angesichts der eigenen Zahlen auch vermessen.

Man habe es „nicht vermocht zu zeigen, welche Erfolge wir in der Ampel hatten“, sagt Lindner. Er will das unrühmliche Ende als selbstlosen Akt verstanden wissen. Man habe „unserem Land einen neuen Anfang ermöglichen“ wollen und sei dafür ins Risiko gegangen: „Wir zahlen einen hohen Preis dafür, aber für Deutschland war es richtig.“ Er selbst, so scheint es, zahlt den höchsten.
MARC BEYER

Artikel 1 von 11